Betrachten wir die jüngsten globalen Entwicklungen so müssen wir zum Schluss kommen: Wir leben in wahnsinnigen Zeiten. Krieg in Europa, Krieg im Nahen Osten, Kriege in Afrika, Klimakatastrophen, Handelsstreit und Wildwuchs an Meinungen in den Sozialen Medien - um nur einige Elemente des Wahnsinns zu nennen. Und es ist dieser Wahnsinn, der zu großer Unsicherheit führt und den Menschen große Angst einjagt! Und für manche können dann nur starke Männer und in Ausnahmefällen starke Frauen Sicherheit und „Lösungen“ bieten!
Das Internationale Recht bleibt dann auf der Strecke. Erschreckend ist, dass sogar international anerkannte politische Analysten, insbesondere wenn es um Israels Militärschlag gegen den Iran geht, das Völkerrecht keine Rolle spielt. Dabei ist ebenso klar, dass auch die politische Führung des Irans - neben einer die Menschenrechte verletzenden Innenpolitik- auch eindeutige gegen die Prinzipen des Völkerrechts verstößt. An der iranischen Innen- bzw. Außenpolitik gibt es nichts zu beschönigen. Aber gerade der auf die internationale, regelbasierte Ordnung pochende Westen sollte mit dem internationale Recht nicht leichtfertig umgehen und es in eine Schublade verbannen.
Was ist neu am heutigen Wahnsinn?
Nun wäre es völlig unsinnig zu behaupten, erst jetzt seien wir in eine einzigartige Phase des Wahnsinns eingetreten. Nein, all die vielen Kriege der vergangenen Jahrhunderte, die Pogrome vor allem gegen Juden, Hexenverbrennungen, die Verfolgung von „Abtrünnigen“ von der wahren Kirche, wie die der Protestanten, der brutale Kolonialismus mit seinem Sklavenhandel. All das waren Wahnsinnstaten.
Was unseren heutigen Wahnsinn allerdings auszeichnet, ist, dass wir schon weiter waren. So hatte uns die Aufklärung ein Stück aus unserer „selbst verschuldeten Unmündigkeit“, wie es Immanuel Kant genannt hat - herausgeführt. Auch wenn danach durch viele schreckliche Taten neue Unvernunft und unermessliches Leid in die Welt gebracht wurde, so wurden nach dem Zweiten Weltkrieg internationale Verhaltensregeln entwickelt und neue Vereinbarungen der Zusammenarbeit getroffen. Die Vereinten Nationen und andere internationale und multinationale Organisationen sollten zu einer regelbasierten Welt führen, wobei diese Regeln auf Grundsätzen der Moral und des Respekts beruhten. Sicher waren diese Regeln nicht vollkommen und ihre Beachtung und Befolgung lückenhaft. Der heutige Wahnsinn stell dies alles in Frage.
Das gemeinsame Europa und seine Feinde
Vor allem in Europa wurde ein Friedensprojekt gestartet, das sich einen Grundrechtskatalog zur Eigen machte, der über die allgemeine Erklärung der Menschenrechte hinausgeht. Von dem Recht auf Meinungsfreiheit und dem Schutz der Privatsphäre bis zu sozialen Rechten sollte eine neue, offene Gesellschaft aufgebaut werden. Festgefahrene Modelle und Zuschreibungen wurden in Frage gestellt! Immer mehr Europäer versuchten sich diesem Projekt anzuschließen - bis es jüngst zur Umkehr kam.
Zuerst „verbot“ der russische Präsident Putin der Ukraine Schritte in Richtung der Europäischen Union zu gehen. Und um sicher zu gehen, dass die Ukraine nicht doch „ausbüchst“, befahl Putin die Invasion und die massive Zerstörung des „Bruderlandes“. Parallel dazu wurde in Russland selbst ein immer autoritäreres politisches System - auch mit Hilfe der Führung der Russisch Orthodoxen Kirche - installiert!
Jetzt kommt der US Präsident Donald Trump und zeigt Verständnis für die russische Aggression. Und so wie Putin stellt Donald Trump seine Macht vor das Recht. Ihm geht es nicht darum, wie gemeinsam mehr Wohlstand geschaffen und der Klimawandel bekämpft werden kann.
Trump will nach dem Prinzip „America First“ für sein Land, vor allem auch für sich selbst, Vorteile auf Kosten der Anderen erzielen. Durch eine willkürliche Handels- und Zollpolitik schafft er bewusst Unsicherheit und schüchtert auch bisherige Partner ein! Das gemeinsame Europa, mit seinen Grundsätzen der Zusammenarbeit, steht ihm da im Wege. Seine Verbündeten sind jene Nationalisten, die aus Europa heraus die mühsam errungene Gemeinschaft zerstören wollen.
Im Nahen Osten verübte eine wahnsinnig gewordene Hamas Führung einen bisher nie da gewesenen Terroranschlag mit katastrophalen Konsequenzen, nicht nur für die jüdische sondern auch für die eigene palästinensisch Bevölkerung. Und die Vergeltungsmaßnahmen der israelischen Regierung - die weit über die gerechtfertigte Selbstverteidigung hinaus schiessen - führen zu unzähligen Toten, massiver Zerstörung und zur Vertreibung der Palästinenser von ihrem Land - in Gaza aber auch im Westjordanland.
Während das nach dem Holocaust verbreitete Wort „ Nie wieder“ auch von vielen jüdischen Intellektuellen als allgemeines Gebot vertreten wird, beharren einige drauf, dass es sich nur auf Untaten gegenüber Jüdinnen und Juden bezieht. Sie leugnen, dass auch Opfer zu Täter werden können.
Wo bleibt der moralische Kompass?
Und in Europa? Wie reagieren hier Menschen auf diese Kriege? Die wunderbare italienische Schriftstellerin Francesca Melandri hat in ihrer Dankesrede nach der Verleihung des Bruno Kreisky Preises für das Politische Buch die einseitige, identitätsorientierte Beurteilung dieser Kriege - und anderer - Ereignisse scharf kritisiert. Diese selektive Empathie - der Einen für die Ukrainer und der Anderen für die Israelis oder die Palästinenser - ist für sie skandalös. Es gibt keine Opfer die weniger wert sind als andere.
So meint sie: „Wenn wir wieder einmal die Menschen unterscheiden zwischen solchen, die unsere Beachtung und Sympathie verdienen, und denen, die das nicht tun, dann gehen wir rückwärts denselben dunklen Pfad. Und doch haben wir geschworen ihn nie wieder zu gehen.“
Es scheint viele von uns haben den mühsam erarbeiteten moralischen Kompass vergessen bzw. verzichten darauf ihn anzuwenden. Und der Wildwuchs an Meinungen in den Sozialen Medien, die von ungezielten oder auch gezielten Fake News usurpiert und beherrscht werden, tragen zur Desorientierung bei.
Das Entscheidende am heutigen Wahnsinn allerdings ist, dass wir es besser wissen müssten. Wir müssten die Katastrophen sehen, die der Nationalismus, rassistische Vorurteile und Machtbesessenheit hervorbringen. Solange liegen diese Katastrophen nicht zurück und viele sind auch heute sichtbar.
Vom Krieg zum Frieden
Albert Camus meinte in seiner Nobelpreis-Rede vom Dezember 1957, dass seine Generation - aber das gilt heute genau so - „als Erbin einer morschen Geschichte, in der verkommene Revolutionen, toll gewordene Technik, tote Götter und ausgelaugte Ideologien sich vermengen, in der Mächte ohne Größe heute wohl alles zerstören, aber niemand mehr zu überzeugen vermögen, in der die Intelligenz sich so weit erniedrigt, dem Hass und der Unterdrückung zu dienen..“, die Aufgabe hat „ein Teil von dem, was Würde des Lebens und Sterbens ausmacht, wiederherzustellen“.
Und speziell was den Krieg bzw. den Frieden betrifft, so meint er: „Angesichts einer von Auflösung bedrohten Welt, in der unsere Grossinquisitoren Gefahr laufen für immer das Reich des Todes zu errichten, ist sie sich bewusst, dass sie in einer Art gehetzten Wettlauf mit der Zeit einen nicht auf Knechtschaft gegründeten Frieden unter den Völkern wiederherstellen ….. sollte.“ Hoffen wir, dass sich die jüngere Generation diese Aufgabe zu eigen macht.
Ja, es geht um einen „nicht auf Knechtschaft gegründeten Frieden“ oder wie Francesca Melandri es in ihrem Roman „Kalte Füße ausdrückt: „Das Gegenteil von Krieg ist nicht Frieden um jeden Preis sondern Rechtsstaatlichkeit.“ Europa als Friedensprojekt sollte sich auch in Zukunft als Projekt der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenwürde verstehen.
Ein Engel mit dem Schwert zur Verteidigung
Der bekannte Philosoph Walter Benjamin, der sich - von den Nazis verfolgt - vor 85 Jahren das Leben nahm, hatte das Bildnis eines Engels des Künstlers Paul Klee “Angelus Novus“ zu einem Symbol seiner Geschichtstheorie gemacht. Dieser Engel, so die Interpretation von Walter Benjamin, sieht zurück auf eine Unzahl von Katastrophen und den dadurch verursachten Trümmern. Er möchte versuchen aus diesen Trümmern und den zum Leben erweckten Toten wieder eine heile Welt zu errichten.
„Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügel verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“
Es scheint, dass wir eine kurze Phase der - wenn auch unvollständigen - (Wieder)herstellung einer geordneten Welt in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg erlebt haben. Und schon muss der Engel der Geschichte neue - materielle und immaterielle - Trümmerhaufen sehen. Dennoch sollten wir nicht verzweifeln. Wir können die neuen drohenden Katastrophen aufhalten. Allerdings nur dann, wenn wir uns dem Sturm, von dem Walter Benjamin spricht, entgegenstellen.
Noch ist es Zeit der blindwütigen und aggressiven Macht menschliche Moral und internationales Recht entgegen zu stellen. Allerdings wird das - leider - nur helfen, wenn wir bereit sind, unsere Werte, unsere Kultur und unsere Gesellschaft zu verteidigen.
Manchmal braucht der Engel der Geschichte auch ein Schwert - nicht um andere anzugreifen - sondern um sich und die Schwachen, die er beschützt, zu verteidigen. Dieses Schwert kann und muss verschiedene Formen annehmen, das hängt von jenen Kräften ab, die unsere Demokratie und die Versuche, ein neues Leben des Miteinander und der Toleranz aufzubauen, bekämpfen und vernichten wollen.
Wir sollten uns jedenfalls dem Wahnsinn nicht beugen, sondern, um noch mal auf Albert Camus zurück zu kommen, im „ gehetzten Wettlauf mit der Zeit“ versuchen, wenn schon nicht eine neue Welt zu errichten, aber jedenfalls „den Zerfall der Welt zu verhindern.“
Der Zerfall der Welt kann aber nur verhindert werden, wenn das internationale Recht nicht als irrelevant bezeichnet und zur Seite geschoben wird. Mark Siemons hat in der FAZ vom 27.6. 2025 unter dem Titel „Auf den Trümmern des Völkerrechts“ auf Walter Benjamins Engel der Geschichte Bezug genommen. Dabei kritisiert er scharf jene politischen Experten, die - aus Anlass der israelischen Militäraktion gegen den Iran - das Völkerrecht als „irrelevant“ bezeichnen und die Weltpolitik als „kein juristisches Oberseminar“ definieren etc. Er kritisiert auch mit Recht jene, die sich als Hüter der „regelbasierten internationalen Ordnung“ ausgeben, um dann sich über die Kritik an der Verletzung dieser Ordnung zu mokieren. Mit Verweis auf die Trümmer die Benjamins Engel zur Kenntnis nehmen muss, meint Mark Siemons: „Es sind die Trümmer nicht nur der Städte, sondern auch der Ordnung, mit der wir uns in der Welt behaupten wollten.“
Diese zunehmende Abwertung des internationalen Rechts bzw. das sehr selektive Pochen und Beharren auf das Völkerrecht ist eine gefährliche Tendenz, die zu verstärkten Anwendung von Gewalt führt. Die Missachtung des internationalen Rechts und die Gewaltspirale unterstützen sich gegenseitig. Wenn heute in Europa viel von der Notwendigkeit verstärkter Anstrengungen zur Verteidigung die Rede ist, dann gilt das auch für die Verteidigung des internationalen Rechts.
* Der Text ist eine leicht ergänzte Fassung der Eröffnungsrede zu den Europäischen Toleranzgesprächen 2025 in Fresach/Kärnten.
Dr. Hannes Swoboda, President of the International Institute for Peace (IP), started his career in urban politics in Vienna and was elected member of the European Parliament in 1996. He was Vice President of the Social Democrat Group until 2012 und then President until 2014. He was particularly engaged in foreign, enlargement, and neighborhood policies. Swoboda is also President of the Vienna Institute for International Economics, the Centre of Architecture, the University for Applied Science - Campus Vienna, and the Sir Peter Ustinov Institute.