Am 26. Oktober 1955, also vor 70 Jahren, wurde vom österreichischen Parlament das Neutralitätsgesetz beschlossen. Seitdem genießt die Neutralität in Österreichs Bevölkerung einen überaus hohen Stellenwert. Sie gilt als Schutz vor Angriffen und schafft die Möglichkeit, als Vermittler tätig zu werden und anderen zu helfen, Konflikte friedlich beizulegen. Verschiedene Meinungsumfragen (zum Beispiel Eurobarometer 2025) bestätigen diese Haltung der großen Mehrheit der Österreicher und Österreicherinnen. Dennoch gibt es heute, wenngleich auf wenige Experten und Expertinnen beschränkt, eine Debatte über den Nutzen der Neutralität einerseits und eines NATO-Beitritts andererseits. Und damit zusammenhängend stellt sich die Frage, ob Österreich überhaupt seine Neutralität einseitig aufgeben könnte.
Wer bestimmt über Österreichs Neutralität?
Als etwa Vierzehnjähriger schrieb ich an den damaligen Außenminister Bruno Kreisky einen Brief mit der Frage, ob Österreich einseitig die Neutralität „aufheben“ könnte. Selbstverständlich bekam ich keine Antwort und sie war überdies damals noch schwieriger zu beantworten als heute. Einerseits war die österreichische Neutralität Gegenstand von Gesprächen und Übereinkünften im Zuge der Verhandlungen zum Staatsvertrag, andererseits war sie nicht Gegenstand des Staatsvertrags, der im Mai 1955 unterzeichnet wurde! So wurde das Gesetz über die – militärische – Neutralität Ende Oktober 1955 nach Abzug der Besatzungstruppen vom Nationalrat beschlossen.
Sicherheitspolitisch hatte die Neutralität den Zweck, das nach dem Krieg entstandene Gleichgewicht zwischen Ost und West in Europa nicht zu verändern, und damit hat die Erklärung der Neutralität auch Österreichs Sicherheit gestärkt. Dieses Gleichgewicht wurde dann noch durch die Schlussakte von Helsinki 1975 bestätigt, aber die Konsequenzen dieser Übereinkunft führten – im Zusammenwirken mit der zunehmenden Schwäche der kommunistischen Regime – zu dramatischen Veränderungen in der politischen Landschaft Europas. Die Sowjetunion verlor ihre Satellitenstaaten und zerfiel letztlich selbst. Diese Neuordnung war aber für den neuen russischen Präsidenten Wladimir Putin „die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts“. Und deshalb hat er durch mehrere Grenzverletzungen und zuletzt durch den russischen Aggressionskrieg gegen die Ukraine diese Neuordnung willentlich zerstört.
Politisch haben sich die Rahmenbedingungen der Neutralität damit stark verändert und das Recht Österreichs, selbst über die Zukunft seiner Außen- und Sicherheitspolitik zu entscheiden, wurde gestärkt. Russland, mit seinen vielen Verletzungen des Völkerrechts und der – auch von Russland – anerkannten Grenzen in Europa, hat schon gar keine moralische oder rechtliche Grundlage, Österreich etwas vorzuschreiben.
Schützt die Neutralität?
Unter Historikern und Politologen gibt es immer wieder eine Debatte, ob und inwiefern die Neutralität vor Angriffen schützt. Diese Debatte nimmt aber oftmals nicht die konkreten Rahmenbedingungen zur Kenntnis. Heute – und das betrifft vom Grundsatz her nicht nur Russland – haben wir es mit einer Verstärkung imperialer, autoritärer und stark machtorientierter Außenpolitik zu tun. Die Staatschefs der großen Mächte wie Putin, Trump und Xi Jinping, aber auch der israelische Regierungschef Netanjahu, sind – gleichwohl unterschiedliche – Beispiele für solche autoritären, sich primär auf militärische Macht stützenden Akteure. So hat sich auch Netanjahu nicht gescheut, Katar anzugreifen, während das Land aktiv zwischen Israel und der Hamas vermittelt hat.
Abgesehen von historischen Beispielen der Verletzung der Neutralität – so durch Hitler in Bezug auf die belgische Neutralität – kann man nicht davon ausgehen, dass die aktuellen imperialen Machthaber, die ja Regelverletzungen nicht scheuen, die Neutralität respektieren, wenn sie ihnen militärisch im Wege steht. Niemand ist heute geschützt vor dem Machtmissbrauch – weder im Inneren noch, was die äußeren Aggressionen betrifft.
Es ist gut und sinnvoll, über die Neutralität zu diskutieren. Nichts soll tabu sein. Diskussion heißt aber nicht, dass die Neutralität wie eine heiße Kartoffel fallen gelassen werden soll. Ja, Schweden und Finnland sind der NATO beigetreten, und dafür gibt es viele gute Gründe. Aber entscheidend war und ist, dass die beiden Länder eine tatkräftige, moderne, aber auch in der Bevölkerung stark unterstützte Armee und Verteidigungspolitik haben. Das hat sie auch befähigt, der NATO beizutreten. Das trifft aber auf Österreich nicht zu.
So meinen Franz Eder und Gregor Solinger in ihrem Beitrag „Bewaffnete Neutralität und Gesellschaft“ (Österreichs Neutralität, von Martin Senn, Jodok Troy, Hrsg.): „Was Österreich jedoch von den skandinavischen Staaten und ihrer hohen Wehrbereitschaft unterscheidet, ist die untergeordnete Rolle, die außen- und sicherheitspolitische Themen für die Bevölkerung spielen.“ Dies und einige weitere Faktoren „führen zu einer äußerst niedrigen Wehrbereitschaft, die nicht nur aus sicherheitspolitischen Überlegungen problematisch ist, sondern auch im Kontext der fehlenden Solidarität Österreichs gegenüber den europäischen Verbündeten viele Fragen aufwirft.“
Eine grundsätzliche Diskussion über die Neutralität und die Wehrfähigkeit gibt es auch in der Schweiz! So meinte Georg Häsler in der NZZ vom 1.10.2025 unter dem Titel „Neutral, unbewaffnet und bedroht“: „Die Schweiz verschließt sich der Bedrohung, zerstört ihre Rüstungsindustrie und weigert sich, ihre Armee wieder aufzubauen. Auch fast vier Jahre nach Ausbruch des Krieges gegen die Ukraine hat sich die Sicherheitspolitik kaum bewegt – und droht vielmehr zu einer Unsicherheitspolitik zu werden.“
Der für die Verteidigung zuständige Bundesrat der Schweiz, Martin Pfister, meinte in einem Interview mit der NZZ vom 2.10.2025: „Auch ein neutrales Land darf und muss sich verteidigen, wenn es angegriffen wird. Neutralität bedeutet deshalb auch, dass wir in der Schweiz mehr für eine glaubwürdige Verteidigungsbereitschaft tun müssen. Im Kriegsfall würden neutralitätsrechtliche Schranken fallen. Eine internationale Kooperation wäre dann möglich und sinnvoll, sie ist aber nicht garantiert. Sie muss so weit wie möglich vorbereitet werden.“
Und Österreich?
Viele Umfragen (zum Beispiel das Gallup-Stimmungsbarometer vom März 2024) zeigen, dass die Österreicher und Österreicherinnen wissen, dass wir kaum verteidigungsfähig sind, gehen aber anscheinend davon aus, dass im Falle des Falles andere uns zur Hilfe kommen werden. Das können angesichts der aktuellen politischen Lage nur die EU bzw. die NATO sein. Aber das setzt voraus, dass wir selbst entsprechende Anstrengungen unternehmen und auch eine – die Neutralität nicht verletzende – Zusammenarbeit mit unseren EU-Partnern und der NATO verfolgen. Das ist ja vielfach schon in der Vergangenheit geschehen. Jetzt gilt es, diese Zusammenarbeit zu verstärken, um nicht einfach als „Trittbrettfahrer“ beschuldigt zu werden, ohne überhaupt zu wissen, ob uns im Falle des Falles ein solches Trittbrett zur Verfügung steht. Es geht also darum, die notwendige Kooperation im Kriegsfall vorzubereiten – wie es der Schweizer Verteidigungsminister forderte.
Angesichts der starken Verankerung der Neutralität im österreichischen Bewusstsein scheint mir eine alternative Vorgangsweise weder praktikabel noch sinnvoll zu sein. Wir müssen endlich den Auftrag, das Land zu verteidigen, erfüllen. Das ist auch der österreichische Beitrag zur europäischen Verteidigung. Dies ist auch deshalb wichtig, denn niemand kann doch ernsthaft behaupten, Österreich könne sich im Falle eines Angriffs allein wirksam verteidigen. Und niemand kann ebenso ernsthaft behaupten, dass vom Westen ein Angriff in Betracht kommt. Tatsache ist, dass in Europa (!) nach 1945, insbesondere nach 1990, die Grenzverletzungen immer ein Ergebnis russischer imperialer Bestrebungen waren.
Wie immer man die Ursachen und tieferen Hintergründe beurteilt, die heutige Ausgangslage für die europäische und damit auch österreichische Sicherheitspolitik ist ein aggressives Russland und eine zu schwache europäische und österreichische Verteidigungskapazität. Und genau diese Verteidigungskapazität und -bereitschaft sind für die Wiederherstellung und Bewahrung des Friedens notwendig. Angesichts der imperialen und machtbesessenen Politik einiger Großmächte genügt es nicht, die Konfliktparteien einzuladen, sich an einen Tisch zu setzen, um zu verhandeln.
Russlands aktuelle brutale Antwort auf die Friedensbemühungen – selbst auf die eines Russland gegenüber freundlichen Donald Trump – belegt täglich, dass diese naive Vorstellung, die leider in Österreich weit verbreitet ist, nicht zieht. Wenn wir unseren Lebensstil und unsere Demokratie bewahren wollen, braucht es auch die Bereitschaft und Fähigkeit, diese zu verteidigen. Und die Verteidigung ist nun mal komplizierter und teurer als der Angriff.
Und was das Recht betrifft, hat Ralph Janik in dem von ihm und Franz Cede herausgegebenen Buch Auslaufmodell Neutralität? klar festgehalten: „Wer angreift, egal aus welchen Gründen und mit welchen Vorwänden, verletzt das Völkerrecht. Wer sich verteidigt, verletzt es nicht.“
Auch wenn es nicht „modern“ ist, so sollte sich die Europäische Union – und Österreich als Teil dieser Union – ans Recht halten, auch an das Recht, sich zu verteidigen. Und ich würde sogar von einer Pflicht reden, immerhin haben wir die Pflicht, anderen EU-Ländern im Falle eines Angriffs beizustehen – wenn auch nicht unbedingt militärisch. Genau darüber braucht es in Österreich eine intensive Diskussion. Und im Übrigen verhindert weder unsere Neutralität noch die EU-Mitgliedschaft eine aktive und ideenreiche österreichische Außenpolitik.
Dr. Hannes Swoboda, President of the International Institute for Peace (IP), started his career in urban politics in Vienna and was elected member of the European Parliament in 1996. He was Vice President of the Social Democrat Group until 2012 und then President until 2014. He was particularly engaged in foreign, enlargement, and neighborhood policies. Swoboda is also President of the Vienna Institute for International Economics, the Centre of Architecture, the University for Applied Science - Campus Vienna, and the Sir Peter Ustinov Institute.