EUROPA UND DIE NEUE WELT(UN)ORDNUNG

Viele sehnen sich nach der nach 1945 erreichten Weltordnung. Es gab den Westen, den Osten und dann noch einige blockfreie Länder, die versuchten sich dazwischen zu arrangieren. Im Wesentlichen respektierte der einzelne Block die Grenzen des jeweilig anderen Blocks und die dazwischen situierten Länder versuchten - soweit sie schon unabhängig waren - von beiden Blöcken Vorteile zu erzielen. Nun, so einfach und friedlich war die Welt keineswegs. Denken wir an die Kriege im Rahmen der De-Kolonialisierung wie im Kongo und in Algerien und an den Korea- und den Vietnamkrieg. Aber immerhin die globalen Verhältnisse waren relativ übersichtlich und stabil.

Die neuen unklaren Verhältnisse

Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der kommunistischen Regime in Europa gab es einen ersten Bruch der globalen Verhältnisse. Und jetzt kommt auch noch ein Krieg in der Mitte Europas hinzu. Der Angriffskrieg gegen die Ukraine ist die Konsequenz des von und in Russland unbewältigten Verlustes seines Imperiums. Russland geht dabei Partnerschaften mit Ländern wie Iran und Syrien ein, wenngleich es auch besonders gute Beziehungen zu Israel unterhält. Und zuletzt holt es sich auch Unterstützung aus Nord-Korea für seinen Krieg gegen die Ukraine.

Auch Amerika musste Verluste einstecken - vor allem in Vietnam, auf eigenem Boden durch die Anschläge im September 2001, aber auch jüngst in Afghanistan und Irak. Aber in einer Demokratie und mit einem stärkeren wirtschaftlichen Rückgrat können solche Krisen leichter bewältigt werden. Dennoch, auch in Amerika und in Europa haben wir es mit Verlustängsten zu tun. Bevölkerungsmäßig sind Länder wie China und Indien und der afrikanische Kontinent den USA und Europa weit überlegen. Bezüglich ihres Sozialprodukts liegen sie nach wie vor weit hinter dem entwickelten Norden, wenn auch die Wachstumsrate für viele Länder - vor allem für China - einen deutlichen AuYholprozess belegt. Hinzu kommt, dass viele dieser Länder gut mit Rohstoffen ausgestattet sind.

Einige mit fossilen Energieträgern, andere wieder mit Rohstoffen, die für die Energiewende notwendig sind. Die meisten dieser Länder sind sich ihrer wachsenden Macht und Bedeutung bewusst und wollen sich keineswegs an einen Partner binden, schon gar nicht an den Westen, der ihnen immer wieder mit moralischen und wirtschaftlichen Forderungen gegenübertritt. Sie gehen lieber wechselnde Koalitionen ein. China ist dabei jedenfalls ein Partner der sich auch als Teil des Globalen Südens versteht und der - zumindest vordergründig - ohne Bedingungen Unterstützungen leistet und auch damit global an Bedeutung gewinnt.

Die Verlustängste der USA

Dieser Bedeutungsgewinn Chinas macht den USA Angst und beherrscht seit einigen Jahren die US-Außenpolitik. Das aufstrebende China wird als wirtschaftliche und politische Bedrohung gesehen. Und selbst bedroht es einiger seiner Nachbarn. Ein in mehrfacher Weise besonderer Fall ist Taiwan mit seiner bedeutenden Chips- Produktion. Aber China geht es nicht nur um den Ausbau seines Einflusses in Asien. Es besteht kein Zweifel, dass China schon seit längerem versucht, eine globale politische, wirtschaftliche und militärische Macht zu werden.

Zu diesem Zweck verbündet es sich auch mit dem „Globalen Süden“. Gemeinsam sind sie - wenngleich in unterschiedlichem Ausmaß - bestrebt, die westliche Dominanz in den multilateralen Instituten wie Weltbank und Währungsfonds zurückzudrängen. Und in der Tat sind die Länder des Südens in vielen multinationalen Organisationen extrem unterrepräsentiert und benachteiligt. Da Yinden die ehemaligen Kolonien des Westens in China einen aktiven Fürsprecher und Akteur, der auch eigene Organisationen ins Leben ruft. Und vor allem wurde China ein wichtiger Investor und Handelspartner. Und das wieder gibt China die Chance auf jene Ressourcen einen Zugriff zu bekommen, die nicht nur China für sein Wachstum benötigt, sondern die auch weltweit nicht zuletzt für eine erfolgreiche Energiewende notwendig sind.

Die Vereinigten Staaten lässt die wachsende Bedeutung Chinas nicht kalt, sie versuchen primär mit Druck auf China zu reagieren. Wichtige Partner dabei sind Japan, Süd-Korea und Indien. Aber auch das von den USA ehemals mit einem fürchterlichen Krieg überzogene Vietnam wird zu einem Bündnispartner, wie der jüngste Besuch von US-Präsident Biden deutlich machte. Dabei wurde ursprünglich ein wirtschaftliches Abkoppeln von der chinesischen Wirtschaft als Ziel propagiert. Inzwischen spricht man eher von einem „de-risking“ also einer Reduzierung des mit einer wirtschaftlichen Abhängigkeit von China verbundenen Risiko.

Parallel versuchen die USA mit den Nachbarstaaten Chinas politische und auch militärische Allianzen zu schmieden, um China in Schach zu halten. Indien, das immer wieder GrenzkonYlikte mit China hat, liegt dabei im Fokus der US China Politik. Indien ist allerdings auch Partner Chinas in der BRICS Gruppe (Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika), die kürzlich um einige Länder aus dem arabischen Raum und Argentinien erweitert wurde. Indien versucht auch aus dem Ukraine Krieg ProYit zu ziehen, unter anderem durch Bezug von billigem Ocl aus Russland und hat sich schon aus diesem Grund nicht der westlichen Sanktionspolitik angeschlossen. Ucberdies betreibt der gegenwärtige Regierungschef Narendra Modi eine extrem hindu-nationalistische Politik auf Kosten der muslimischen Bevölkerung Indiens.

Das gute Verhältnis der USA zu Indien - ebenso wie das Bündnis mit Vietnam und auch die neue Freundschaft zum saudischen Kronprinz Mohammed bin Salman (MbS) - zeigt deutlich die Dominanz geopolitischer Ucberlegungen gegenüber der auch zu Beginn der Präsidentschaft von Biden propagierten Allianz der Demokratien. Und das hat sicher auch Konsequenzen für Europa mit seinem Anspruch auf eine werte- und regelbasierte Außenpolitik.

 

Und Europa?

Was bedeutet das aufsteigende China für die globale Position Europas? Und was bedeutet die neue Weltlage, für die von vielen europäischen Politkern propagierte „wertegeleitete“ Außenpolitik? Wie steht es um das Verhältnis einer Politik, die die Umsetzung der universellen Werte einfordert zu den wirtschaftlichen und ökologischen Zielsetzungen und Bedürfnisse der EU? Kann Europa diesen Spagat schaffen?

Klar ist, dass die Länder der Europäischen Union im Vergleich zu den USA in einem viel stärkerem Ausmaß von China wirtschaftlich abhängig sind. Das betrifft vor allem auch die Güter, die für die Energiewende in Richtung Nachhaltigkeit entscheidend sind. Dabei geht es vor allem um die „seltenen Erden“. Will man die für die Energiewende notwendige ElektriYizierung umsetzen, so ist - solange wir keine durchschlagend neuen Technologien entwickeln bzw. zur Verfügung haben - China der wichtigste Partner. In China werden 70% dieser Erden gewonnen, 87% von ihnen verarbeitet und 91% davon rafYiniert. Europa, das stark auf Wind- und Sonnenenergie sowie auf E-Mobilität setzt, braucht diese Materialien noch auf längere Zeit von China.

Diese können nämlich derzeit realistischerweise weder aus eigenen Minen gewonnen werden noch mit eigenen Anlagen verarbeitet und rafYiniert werden. Ucberdies ist die Gewinnung mit großen Umweltproblemen verbunden und stößt in Europa schnell auf Widerstand der einheimischen Bevölkerung. Das gilt auch für andere Rohstoffe, die Europa für die Elektromobilität braucht und die man auch in Europa gewinnen könnte, wie zum Beispiel Lithium. Wir haben diesen Widerstand der lokalen Bevölkerung zuletzt in Serbien und in Portugal erlebt.

Es gibt auch zu wenig von diesen Rohstoffen in Geräten und Anlagen, die sich schon am Ende ihres Lebenszyklus befinden, um sie über Recycling zu gewinnen. Es braucht jedenfalls Jahre bis Jahrzehnte bis Europa eine relative Unabhängigkeit von China erreichen könnte. Dabei sind natürlich alle Maßnahmen der EU und der einzelnen EU- Mitgliedsstaaten, die eine Reduzierung der Abhängigkeiten von einem monopolartigen Anbieter anstreben, zu begrüßen. Sie reduzieren jedenfalls - langfristig - das Risiko von Engpässen und Erpressungen.

Neben den seltenen Erden sind aber auch viele andere Rohstoffe für die europäische Wirtschaft und für die Elektrifizierung unserer Gesellschaft notwendig wie Nickel, Kupfer, Graphit, Kobalt und das schon erwähnte Lithium. Diese beYinden sich vor allem in Ländern des Globalen Südens wie Indonesien, Chile, Kongo. Aber die Europäer sind nicht die einzigen die diese Produkte erwerben wollen. Es gibt viele Konkurrenten und hier kommt vor allem wieder China im Spiel.

Entscheidend für die Durchsetzung europäischer Interessen ist eine viel überlegtere und aktivere Politik gegenüber den Ländern des Globalen Südens als das in der Vergangenheit der Fall war. Mit verschiedenen Programmen hat die EU bereits begonnen verstärkt in die Infrastruktur der Länder des Südens zu investieren. Zuletzt hat die Europäische Union auch beim G20 Gipfel unter dem indischen Vorsitz die Errichtung eines neuen Transportkorridors von Indien über den Nahen Osten nach Europa erreicht.

Der Ausbau von internationalen Verkehrsverbindungen jenseits der durch Russland führenden Routen ist für die Versorgung von Europa mit Rohstoffen ebenso wichtig wie für den Export europäischer Produkte. Entscheidend ist eine Politik, die sich darauf konzentriert die Rohstoffe aus einer Vielzahl von Ländern zu erhalten, das heißt die Rohstoffversorgung zu diversifizieren. So wird die Abhängigkeit von einzelnen Ländern und das damit verbundene Risiko reduziert. Was sicher nicht möglich ist sich nur aus den Ländern zu versorgen, deren Politik mit den „europäischen“ Werten übereinstimmt. Ohne unsere Werte aufzugeben, muss die EU auch pragmatisch agieren.

Die jüngsten Machtübernahmen durch das Militär in einigen westafrikanischen Länder zeigt aber auch wie fragil Teile der für Europa wichtigen Nachbarschaft sind. In diesem Fall geht es nicht so sehr um die wirtschaftliche Abhängigkeit, sondern um die europäische Sicherheit. Über Jahre haben europäische Truppen, vor allem französische, versucht die lokalen Regierungen beim Kampf gegen den islamisch geprägten Terror zu unterstützen. Dabei wurde allerdings zu viel Wert auf die militärische Komponente gelegt und zu wenig Nachdruck auf die Bekämpfung von Armut, Ungleichheit und Korruption gelegt. Auch wenn die lokalen Militärs nicht dafür bekannt sind, dass sie diese Herausforderungen besser lösen als Zivilregierungen, so wurden die Umstürze durch das Militär vielfach von der Bevölkerung begrüßt. Jede Änderung ist angesichts des Versagens der Regierungen mit der Hoffnung auf Verbesserungen verknüpft. Und dem ehemaligen Kolonialherren, vor allem Frankreich, misstraut man ohnedies.

Hinzu kommt, dass gerade manche westafrikanische Länder bzw. einige Regionen in diesen Ländern Herkunftsregionen für Migration nach Europa geworden sind. Viel zu wenig Aufmerksamkeit hat Europa den Einzelheiten der Voraussetzungen und Bedingungen dieser Migrationsbewegungen geschenkt. In der Folge hat Europa auch keine Strategie entwickelt, wie man diese Bewegungen in geordnete Bahnen lenken und mit dem Fachkräftemangel in Einklang bringen könnte. Sicher kann eine solche Strategie nicht alle Probleme der freiwilligen und erzwungenen Migration befriedigend lösen. Aber mit entsprechendem Willen und einem gemeinsamen europäischen Vorgehen könnte man den Rechtspopulisten viel Wind aus den Segeln nehmen.

 Klar ist, dass die von der Europäischen Union zu bewältigenden Herausforderungen oftmals im Widerspruch zu Anstrengungen stehen, die universellen bzw. europäischen Werte durchzusetzen. Dabei muss man berücksichtigen, dass Europa oftmals ohne Sensibilität und mit Überheblichkeit vorgegangen ist. Angesichts vergangener Verbrechen und auch gegenwärtiger Überlegenheiten wäre mehr Bescheidenheit ohnedies angebracht. Aber abgesehen davon, die Machtverhältnisse haben sich verändert und verschoben. Wenn wir wichtige Ziele wie die Energiewende und die Klimaziele generell umsetzen wollen, muss Europa mit mehr Respekt und Angeboten zur Partnerschaft den Ländern des Globalen Südens gegenübertreten. Und auch China muss bei aller - berechtigten - Kritik an den internen Verhältnissen auch als Partner betrachten werden. Ohne mehr Pragmatismus werden wir weder die globalen Klimaziele erreichen noch die europäischen Lebensverhältnisse in Richtung Nachhaltigkeit weiter entwickeln können.

 

Rückkehr zum Multilateralismus

Was an der neuen Welt(un)ordnung besonders bedauerlich ist, ist die schleichende Abwertung der übergeordneten multilateralen Organisationen wie der Vereinten Nationen. Sie versagt - auf Grund des russischen Vetos - nicht nur bei der Eindämmung des Ukrainekrieges. (Und wurde oft genug durch ein Veto seitens der USA blockiert) Trotz vieler internationaler Konferenzen zur Klimapolitik gibt es nur bescheidene Fortschritte. Und eine Reform der UNO selbst, vor allem die Erweiterung des Sicherheitsrates um ständige Mitglieder aus dem Globalen Süden bei gleichzeitiger Abschwächung des Vetorechts, kommt nicht voran. Zum Teil auf Grund der Schwäche multilateraler Organisationen und zum Teil im Interesse einer Machtverschiebung weg vom Westen haben sich neue „mini-multilaterale“ Organisationen herausgebildet.

Die vorhin erwähnte und nun erweiterte Gemeinschaft der BRICS Staaten aber auch die Shanghai Organisation für Zusammenarbeit sind solche Vereinigungen. Aber auch die G20 und die westlich dominierte G7 Gruppe gehören zu diesen nur für einen Teil der Welt sprechenden Organistaionen. Sie alle können schon einen Wert haben, sie können aber nie die wirklich weltweit wirkenden Organisationen ersetzen. 

Die Europäische Union sollte diesbezüglich verstärkt aktiv werden, um der Multilateralität einen neuen Schwung zu geben. Das geht aber sicher nur, indem die EU auf Reformen der UNO, der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds drängt. Und solche Reformen müssen den Staaten des Globalen Südens, die einerseits im UN Sicherheitsrat und anderseits in den Führungsgremien von Weltbank und IMF unterrepräsentiert sind mehr Gewicht und Stimme geben.


Dr. Hannes Swoboda, President of the International Institute for Peace (IIP), started his career in urban politics in Vienna and was elected member of the European Parliament in 1996. He was Vice President of the Social Democrat Group until 2012 and then President until 2014. He was particularly engaged in foreign, enlargement, and neighborhood policies. Swoboda is also President of the Vienna Institute for International Economics, the Centre of Architecture, the University for Applied Science - Campus Vienna, and the Sir Peter Ustinov Institute.