Wie Österreich einen Kompromiss in Bergkarabach vorantreiben könnte

Erschienen in DERSTANDARD am 26.09.2023

Im Gastblog schreibt Stephanie Fenkart, Direktorin des International Institute for Peace (IIP), über Österreichs Möglichkeiten, sich in den Konflikt und Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien vermittelnd einzubringen.

Der russische Krieg gegen die Ukraine, der in vollem Umfang seit Februar 2022 andauert und bisher zu hunderttausenden Toten, Millionen traumatisierter Menschen, einer unglaublichen Flüchtlingswelle, der Zerstörung von Infrastruktur und Lebensraum geführt hat, hat Europa sozusagen im Winterschlaf überrumpelt. Die von Kanzler Scholz kurz darauf ausgerufene Zeitenwende verdeutlicht, dass auch Europa sich in seiner unmittelbaren Nachbarschaft nicht mehr sicher fühlen kann und handeln muss. Dem Mythos, dass es – zumindest auf europäischem Boden – nicht mehr zu Kriegen zwischen Staaten kommt, wurde ein jähes Ende gesetzt und die Europäische Union versucht seitdem die europäische Sicherheitsarchitektur neu zu definieren.

Das Ausmaß dieses Krieges und die Auswirkungen auf die Europäische Union überschatten einen anderen langjährigen Konflikt an den Rändern Europas, der seinen Ursprung in einer Vielzahl ungelöster Fragen – nicht zuletzt seit dem Ende der Sowjetunion – hat. Der Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan im Südkaukaukasus. Zwei Länder der ehemaligen Sowjetunion, zwei Länder, die Teil der 2009 von der EU ins Leben gerufenen östlichen Partnerschaft sind.

Vorfälle im Jahr 2020

Mitten in der globalen Covid-Pandemie, kam es zum sogenannten Zweiten Nagorno-Karabach Krieg zwischen Aserbaidschan und Armenien, der im November 2020 nach 44 Tagen – nicht zuletzt durch maßgebliche militärische Unterstützung und Drohnenlieferungen der Türkei (und Israel) – zugunsten Aserbaidschans entschieden wurde. Vermittelt wurde der Waffenstillstand durch Russland, das traditionell als Schutzmacht Armeniens gilt. Aserbaidschan konnte zwei Drittel der bisher armenisch kontrollierten Gebiete zurückerobern, die völkerrechtlich Aserbaidschan zugeordnet sind.

Der Waffenstillstand im verbleibenden Drittel in Nagorno Karabakh, das von circa 120.000 Armenier:innen bewohnt ist und sich als unabhängige Republik Artsakh deklariert hat, soll mithilfe von 2.000 russischen Peacekeepers garantiert werden und graduell mithilfe eines Friedensvertrags zwischen Armenien und Aserbaidschan letzterem eingegliedert werden. Ein Unterfangen das aufgrund der langen und schwierigen Geschichte von Kriegen, ethnischem Konflikt, Flucht, Vertreibung und Zerstörung immer wieder an seine Grenzen stößt.

Instabiler Frieden

Alle internationalen Vermittlungsbemühungen haben sich seit dem Ersten Nagorno-Karabach-Krieg als unzureichend erwiesen. Die sogenannte Minsk-Gruppe, bestehend aus Russland, den USA und Frankreich, die 1994 nach dem ersten Nagorno-Karabach-Krieg ins Leben gerufen wurde und zu einer friedlichen Lösung beitragen sollte, ist gescheitert. Seit Dezember 2022 blockiert Aserbaidschan den sogenannten Lachin-Korridor, die einzige Verbindung zwischen Nagorno Karabach und Armenien. Die Folge davon ist eine gravierende humanitäre Krise, da die Region von der Versorgung mit Nahrungsmitteln, Gesundheitsvorsorge, teilweise Elektrizität und Benzin abgeschnitten ist.

Während der Internationale Gerichtshof der Vereinten Nationen Aserbaidschan dazu auffordert, die Blockade des Lachin-Korridors zu beenden, hat er die prinzipielle Zulässigkeit des aserbaidschanischen Checkpoints in Lachin, an der Grenze zu Armenien, bestätigt. Seitdem wird die Situation und die humanitäre Krise von allen Seiten dazu genutzt, politisches Kapital zu schlagen. Während Armenien von einem drohenden zweiten Völkermord und der Einsetzung von Hunger als Waffe spricht, argumentiert Aserbaidschan, es gäbe keine Blockade, sondern lediglich Grenzkontrollen, um das Schmuggeln von Waffen in die Region zu verhindern. Hilfsgüter würden von aserbaidschanischer Seite (über Aghdam) bereitgestellt, aber von den Armenier:innen nicht angenommen. Erst Mitte September 2023 kam es zu einer Vereinbarung der Parteien beide Straßen zu öffnen und so zumindest die humanitäre Krise – mit Hilfe des Roten Kreuzes bzw. dem Roten Halbmond – zu überwinden. Daneben ist allerdings von Truppenzusammenziehungen an der Grenze und Angriffen auf armenisches Staatsgebiet die Rede.

Die zunehmende Enttäuschung Armeniens gegenüber der Untätigkeit ihrer einzigen militärischen Schutzmacht Russland zeigt auch die sicherheitspolitische Isolation, in der sich Armenien befindet, während sich das vergleichsweise reiche Aserbaidschan seiner militärischen Fähigkeiten – insbesondere seit dem Sieg 2020 – sehr wohl bewusst ist und von seinem neu gewonnen Selbstvertrauen profitiert. Am 19. September kam es laut Berichten zum Tod von mindestens sechs Aserbaidschaner:innen und drei Verletzten durch eine Landmine. Kurz darauf startete Aserbaidschan eine sogenannte Anti-Terroroperation und hat nun wohl endgültig Fakten geschaffen. Die armenische Vertretung in Karabach sah sich gezwungen zu kapitulieren. Seitdem überschlagen sich Berichte über Fluchtbewegungen Richtung Armenien. Eine friedliche Lösung des Konflikts ist offensichtlich gescheitert.

Die Macht der Narrative

Sowohl Armenien als auch Aserbaidschan haben ein Interesse daran, einen Friedensvertrag zu schließen. Die Aussage des armenischen Premierministers Nikol Pashinjan im Mai 2023, die Enklave Nagorno Karabach – im Einklang mit den vier vorangegangenen UN-Resolutionen – als Teil Aserbaidschans anzuerkennen, sollte Baku die Rechte und die Sicherheit der dort lebenden armenischen Bevölkerung garantieren, konnte als Meilenstein in den Beziehungen zwischen Armenien und Aserbaidschan gesehen werden (was innerhalb Armeniens aber durchaus auch Kritik hervorgerufen hat). Aserbaidschan erklärt sich allerdings lediglich bereit, den Armenier:innen die gleichen Rechte wie den anderen Staatsbürger:innen innerhalb Aserbaidschans zuzugestehen und lehnt eine weitreichende Autonomie für die Armenier:innen in Nagorno-Karabach entschieden ab. Ein weiterer Streitpunkt ist die geforderte Landverbindung zwischen Aserbaidschan und seiner Exklave Nakhchivan durch armenisches Territorium sowie eine endgültige Demarkation der Grenzen zwischen Armenien und Aserbaidschan. Das geschwächte Armenien befürchtet nachteilige Kompromisse eingehen zu müssen und hat erkannt, dass sie sich in diesen Fragen nicht auf Russland verlassen können.

Dazu kommt, dass Armenien und auch Nagorno Karabach demokratisch regiert sind, während es sich bei Aserbaidschan um ein klassisches autoritäres Regime handelt, das seit der Unabhängigkeit 1991 von einer einzigen Familie, dem Alijew-Klan, regiert wird. Die Kompromisslosigkeit mit welcher Aserbaidschan seine Ansprüche über Nagorno Karabach stellt, führt zu großen Ängsten der armenischen Minderheit, deren Nationalitätsbewusstsein maßgeblich durch den Genozid Anfang des 20. Jahrhunderts während der Herrschaft des osmanischen Reiches – in welchem circa eine Million Armenier:innen getötet wurden –, geprägt ist. Seit den Angriffen vom 19. September befürchten daher viele Expert:innen eine Massenflucht der Armenier:innen aus Nagorno Karabach und rechnen im schlimmsten Fall mit Vertreibungen bis hin zu Gewaltakten. Aserbaidschan bemüht sich rhetorisch zu deeskalieren, schickt medienwirksam Hilfslieferungen und betont, die Rechte der Armenier:innen wahren zu wollen.

Allerdings ist auch die Haltung Aserbaidschans mit historischen Erfahrungen unterlegt. So konnte Armenien im Ersten Nagorno-Karabach Krieg (1988–1994) die Kontrolle über Nagorno Karabach inklusive sieben Regionen, die vor allem von Aserbaidschaner:innen besiedelt waren, übernehmen. Es kam zur Vertreibung von 600.000 Aserbaidschaner:innen aus Nagorno Karabach (und weiteren 200.000 aus Armenien) inklusive der Zerstörung und Plünderung von Häusern. Im kollektiven Gedächtnis Aserbaidschans ist diese Erfahrung von Flucht und Vertreibung ebenso konstituierend für das nationale Identitätsbewusstsein wie es der Genozid an den Armenier:innen für deren Identitätsbewusstsein ist. Beinahe 30 Jahre gegenseitige Animositäten lassen momentan allerdings wenig Raum für Optimismus in Bezug auf ein mögliches, friedliches Zusammenleben, auch wenn ein erster Austausch zwischen der aserbaidschanischen Führung und den Armenier:innen aus Karabach stattgefunden hat.

Die EU und Österreich: Was können wir tun?

Die Sicherheitslage im Südkaukasus hat unmittelbare Auswirkungen auf die Sicherheit der Europäischen Union und Österreich. Angesichts der geopolitischen Akteure, die in der Region aktiv sind – Russland, die Türkei, der Iran, die USA und die EU – könnte Österreich, als neutrales Land, eine Nischenfunktion in der zivilen Konfliktbearbeitung zukommen. Weder verfügt Österreich, wie beispielsweise Frankreich, über eine nennenswerte armenische Minderheit, noch ist es Teil der Nato, was insbesondere von Russland, aber auch vom Iran für problematisch angesehen würde. Seit dem Ende des Ersten Nagorno Karabach Krieges 1994 gibt es so gut wie keinen Austausch zwischen Bewohner:innen der Enklave und Aserbaidschaner:innen. Der über Jahrzehnte andauernde Konflikt ist höchst emotionalisiert und beide Seiten sehen sich vor allem als Opfer von Verbrechen, Zerstörung und Vertreibung. Die Hauptschuld trägt die jeweils andere Seite.

Die neu geschaffene Mediationsfazilität im österreichischen Außenministerium könnte als Mittel genutzt werden, Dialogprozesse einerseits zwischen Armenien und Aserbaidschan auf sogenannter Track II Ebene (informelle Hintergrunddiplomatie nicht-staatlicher Akteure) und Track I ½ (Sondierung- und Vorbereitungsdiplomatie für offizielle Diplomatie [Track I]), aber auch zwischen Armenier:innen in NK und Aserbaidschaner:innen über die Zukunft der Beziehungen beider Länder zu initiieren. Um einen langfristigen gerechten und stabilen Frieden zu fördern, könnte sich Österreich zudem in Zusammenarbeit mit anderen internationalen Partnern für die Einsetzung einer Wahrheits- und Versöhnungskommission nach südafrikanischem Vorbild für die Aufarbeitung von Kriegsverbrechen aller Seiten in den beiden Kriegen und der letzten gewaltsamen Eskalation vom September stark machen (Track I und Track 1 ½). Ein zunehmendes österreichisches Engagement könnte auch die zivile EU-Mission auf der armenischen Seite der Grenze unterstützen. Um größtmögliche Legitimität zu erreichen, gilt aber auch hier, alle Seiten in Vorbereitungsgespräche und Dialogprozesse einzubeziehen. Wien als internationaler Verhandlungsort und Sitz zahlreicher internationaler Organisationen bietet sich hierfür an.

Es sind viele kleine Schritte, die eine langfristige Lösung ermöglichen können. Auch wenn Kompromisse mitunter als schmerzhaft wahrgenommen werden, können sie doch zu einer Situation führen, bei der alle Parteien Vorteile erzielen. Der Prozess wird langwierig und mühsam sein. (Stephanie Fenkart, 26.9.2023)


Mag. Stephanie Fenkart MA is Director of the International Institute for Peace (IIP) since 2016. She has an MA in Development Studies from the University of Vienna and an MA in Human Rights from the Danube University, Krems. She is furthermore a member of the Advisory Committee for Strategy and Security Policy of the Scientific Commission at the Austrian Armed Forces (BMLV). She is also a board member of the NGO Committee for Peace, Vienna.