Die italienische Schriftstellerin Francesca Melandri erhielt kürzlich den „Bruno Kreisky Preis für das politische Buch“. Dabei stellt sich die Frage inwieweit ein Roman ein politisches Buch sein kann und inwiefern wir daraus etwas für die aktuelle Politik lernen können. Vielleicht aber ist es sogar leichter aus Romanen, also Geschichten als aus der in Schulen und Universitäten vorgetragenen Geschichte zu erlernen. Denn diese schildern die Vergangenheit plastischer und differenzierter und weniger dogmatischer. Jedenfalls ist das bei Francesca Melandri der Fall. Ich habe daher versucht in meiner Laudatio auf diese Art der Darstellung hinzuweisen und den Vorzug einer solchen Darstellung der Geschichte zu unterstreichen.
Der Preis, den wir Francesca Melandri kürzlich in Wien Forums überreicht haben trägt den Namen von Bruno Kreisky. Er war ein Mann der aktiv die internationale und nationale Politik gestaltete aber gleichzeitig stark von Literatur beeinflusst war. Francesca Melandri hingegen ist eine Schriftstellerin, die aber ihrerseits stark vom vergangenen und aktuellen politischen Geschehen beeinflusst ist.
Politische Literatur mit Empathie
Dabei verknüpft sie in faszinierender und oft rührender Weise dieses Geschehen mit Familiengeschichten, zum Teil sogar mit der eigenen. So wird Geschichte lebendig und für die Leser und Leserinnen erfahrbar.
Auch wenn sie politisches Geschehen behandelt, geht es ihr dabei immer auch um Menschen mit ihren guten und schlechten Seiten, mit all ihren Widersprüchen. Das kommt in besonders eindrucksvoller Weise in der Charakterisierung der Gefangen, deren Angehörigen und der Gefängniswärter in ihrem Buch „Über Meereshöhe“ zum Ausdruck.
Das führt mich auch zu einem Schlüsselwort für und in ihrem Schreiben: Empathie. Dabei spricht sie vom Wunder, vom Mysterium der Empathie, die zwischen Leser und Schriftstellerin bzw. Schriftsteller entsteht. Darin sieht sie sogar den größten politischen Wert der Literatur.
Diese Empathie, die damit auch beim Leser, der Leserin geweckt wird, ist der Vermittlung mit erhobenem Zeigefinger vorzuziehen. Francesca Melandri ist vielleicht eine Lehrende aber keine Belehrende.
Klarer Standpunkt ohne Belehrung
Und dennoch lassen ihre politischen Aussagen keinen Zweifel zu auf welcher Seite sie steht. In ihrem Buch „Alle außer mir“ steht sie auf der Seite der besetzten Länder Libyen und Äthiopien und deren Bevölkerung. Sie kritisiert und verurteilt die Besatzer.
Aber ihr geht es mehr um den Zusammenhang zwischen dem Kolonialismus der Vergangenheit und der Flüchtlingspolitik von heute. So äußert sie auch ihre Sympathie für die Flüchtlinge.
Aber ihre Werke sind keine politischen Pamphlete. Immer wieder gibt es Menschen, die sie mit ihrer und in ihrer Ambivalenz und Ambiguität zeichnet. Keine der Personen wird schablonenhaft gezeichnet.
Sie bekundet auch ihre Sympathie für Menschen, die versuchen Lösungen im Raum zwischen den radikalen Kräften zu finden. Ein solcher ist der ehemalige Südtiroler Landeshauptmann Silvio Magnago, der mit dem später entführten und ermordeten Ministerpräsident Aldo Moro das Südtirol Paket schnürte. Berührend die Schilderung wie Silvio Magnago den ermordeten Aldo Moro betrauert.
Aber es ist die Vielfalt und Vielfältigkeit der Personen, die uns Francesca Melandri in ihrem Roman „Eva schläft“ näher bzingt die besonders faszinierend ist. So vermittelt sie uns das ganze Trauma Südtirols und die in viele persönliche Beziehungen hineinspielenden Auseinandersetzungen zwischen der deutsch-sprechenden Bevölkerung und den Italienern.
Damit wird uns auch heute klar wieviel Hürden wir überwinden mussten, um uns einem gemeinsamen Europa anzunähern. Denn noch sind wir nicht so weit, dass wir von einem wirklich gemeinsamen Europa sprechen können.
Der Russlandkrieg der vor allem ein Ukrainekrieg war
Und damit bin ich bei Melandris bisher letztem Buch „Kalte Füße“. Nochmals wird uns der Krieg, den das nationalsozialistischen Deutschland und das faschistische Italien verursachten, in Erinnerung gebracht.
Und dieser Krieg bzw. die Teilnahme von Melandris Vater in diesem Krieg wird mit dem heutigen Krieg Russlands gegen die Ukraine in Beziehung gesetzt. All jenen, die meinen man müsse gegenüber diesem Krieg eine neutrale Haltung an den Tag legen und vor allem auf Grund des Krieges gegen Russland nicht schon wieder Waffen gegen Russland einsetzen, rückt Melandri die Geschichte zurecht.
Denn der Krieg der Nationalsozialisten und Faschisten war in Wirklichkeit großteils ein Krieg gegen die Ukraine. So spricht sie zu ihrem Vater, der am Krieg in der Ukraine teilgenommen hat, von einem „Russlandkrieg, der in Wahrheit größtenteils ein Ukrainekrieg war.“ (la guerra di Russia che poi era lo piu d’Ucraina”) Damit macht sie klar, dass die Ukraine schon wieder ein Opfer der Aggression ist.
Francesca Melandri macht nicht nur deutlich auf welcher Seite sie steht. Sie zeigt auch auf wo die Wurzeln für die Missachtung der Leiden der Ukrainer gerade auch in Italien – aber das gilt genauso für Deutschland und Österreich – liegen.
Ein Grund ist die hohe und einseitige Wertschätzung der russischen Kultur. Das war auch bei ihr zu Hause der Fall. „Das Einzige, was existiert, ist die große russische Kultur.“ (Solo la Grande Cultura Russia existe, ha valore“) Und diese Wertschätzung ist eng mit einer Missachtung der ukrainischen Kultur verbunden. „Niemand wäre je auf die Idee gekommen, dass es sowas wie eine ukrainische Literatur geben könnte.“
Aber auch generell meint sie es „erstreckt sich etwa von Wien, mindestens aber von Prag bis nach Moskau eine gestaltlose riesige Fläche, bewohnt von zurückgebliebenen, wenn nicht reaktionären Menschen, von armen Schluckern und Bauern, vielleicht ein paar Pflegerinnen und Bauarbeitern, noch dazu alles Slaven.
Aber eben nicht die faszinierende Art der Slaven wie diese Russen...“ Und obwohl Österreich näher zu Ukraine liegt als Italien und obwohl ein Teil der Ukraine zu Österreich gehörte, ist dieses arrogante Unwissen auch in Österreich zu finden.
Was ist Friede?
In letzter Zeit ist mehr und mehr vom Frieden die Rede. Und nichts kann man sich mehr wünschen als Frieden – im Übrigen nicht nur in Europa. Denken wir auch an den Sudan, oder jetzt auch an Indien und Pakistan aber vor allem auch an den Gaza Krieg.
Und gerade hier in den Räumen in denen Bruno Kreisky gewohnt aber auch viele Staatsmänner und -Frauen empfangen hat sollten wir an seine klare und konsequente Nahostpolitik denken.
Das was er trotz mancher scharfer Kritik vertreten hat, nämlich das Recht der Palästinenser auf ein Leben in Freiheit und Selbstständigkeit wird in Gaza aber auch in der Westbank geleugnet und ein unbarmherziger Krieg raubt den Palästinensern diese Möglichkeit auf ein solches Leben.
Dabei kommt diese Unbarmherzigkeit sowohl von der radikalen Hamas Führung als auch seitens der rechtsextremen israelischen Regierung. Ob es jemals zum Frieden zwischen Israel und den Palästinensern kommt? Jedenfalls nicht solange die Extremisten auf beiden Seiten weiterhin das Sagen haben.
Aber wir sollten vor all jenen Vertreter und Vertreterinnen des Judentums zuhören die sich massiv gegen die Politik der jetzigen israelischen Regierung wenden und ein Ende des Krieges fordern.
Der Blick auf die Katastrophe im Nahen Osten - so Navid Kermani und Natan Sznaider - ist „ ein Blick auch in die europäische und jüdische Vergangenheit, wo Krieg solche Bilder, die Befreiung aber zugleich auch Hoffnung auf ein neues Leben erzeugte. Der Schrecken hat viele Gesichter, und alle sehen aus wie unser eigenes.“
Und deshalb fordern sie eine Neupositionierung der deutschen Außenpolitik und ich meine das gilt auch für die österreichische Außenpolitik. Es geht um das Überleben in Sicherheit für Israel und Palästina, für Jüdinnen und Juden und die Palästinenser in und außerhalb Israels. Kein Leben ist wertvoller als das andere.
Wenn wir Frieden fordern, gilt auch zu bedenken etwas, was Francesca Melandri ihrem Vater gegenüber ausgedrückt hat:“ Eins hab ich verstanden, Papa: Das Gegenteil von Krieg ist nicht Frieden um jeden Preis, sondern Rechtsstaatlichkeit. Es sind die Gesetze, die den Schulhoftyrannen daran hindern, den Schwächeren zu verprügeln, und die den Schwächeren vor Schikanen schützen.......Sieh mal Papa, da wollte ich ein Buch über den Krieg schreiben und stattdessen ist es ein Buch über Demokratie geworden“
Für Gerechtigkeit und Demokratien haben im Zweiten Weltkrieg die Partisanen gekämpft, heute kämpfen die Ukrainer dafür.
Diese Preisverleihung fand am Vorabend des 80. Jahrestags des Ende des 2.Weltkriegs - in Europa - statt. Aber wir sollten bedenken, dass für manche das Ende des Krieges noch nicht Frieden und vor allem Gerechtigkeit gebracht hat.
Die Vereinbarungen von Jalta haben einige Länder direkt Russland zugeschlagen bzw. andere Staaten der sowjetischen Sphäre zugeteilt. Im Süd-Osten Europas kam es zu Bürgerkriegen bzw. zu Racheakten. Viele Unschuldige und manche Schuldige wurden verschleppt und ohne Verfahren hingerichtet.
Und wie lange hat es gedauert bis die Wunden des Krieges geheilt werden konnten und dass, nach dem - oftmals ungenau überlieferten - Spruch von Willy Brandt „ zusammen wuchs was zusammen gehört“. Denken wir an Deutschland und Berlin oder denken wir an die diesjährige Kulturhauptstadt Gorizia/Nova Goriza. Friede bedeutet eben nicht sofort Gerechtigkeit und Versöhnung.
Apropos Versöhnung: Melandris politische Positionen sind klar und eindeutig. Aber diese Haltung verwandelt sich nicht in Hass. Sie zeichnet auch ihren Vater, mit dem sie so viel politische Differenzen hat, mit weicher Kreide.
Einer dieser Partisanen, der für Freiheit und Demokratie kämpfte, war ein Partisan mit dem Decknamen Max. Dieser bezeichnete Melandris Vater als „anständigen Faschisten“. Er hat ihn nämlich nicht verraten und so auch ein wenig seine eigene Ehre gerettet.
Blick in die Zukunft
Grundsätzlich geht es Melandri nicht so sehr um die Suche nach Schuldigen für die Vergangenheit als um die Übernahme der Verantwortung für die Zukunft. “Mir persönlich wäre es lieber, Papa, wenn die Menschen, anstatt sich für den Faschismus von gestern schuldig zu fühlen, die Verantwortung für die Demokratie von morgen übernehmen würden.“
Wer die Bücher von Francesca Melandri mit Aufmerksamkeit liest, wer ihre Interviews liest und hört, der kann gar nicht anders als Empathie zu entwickeln und sich für eine bessere Zukunft und eine lebendige Demokratie einzusetzen. Und damit Verantwortung für eine bessere Zukunft zu übernehmen.
Roger Berkowitz, Gründer und Direktor des Hannah Arendt Center for Politics and Humanities meinte unlängst: „Ich lese nicht um die Wahrheit zu finden, sondern um meinen Blick zu erweitern. Und ich glaube daran, daß wir, wenn wir ehrlich mit anderen über Gerechtigkeit, Wahrheit, Bedeutung und Glück sprechen - und zwar nicht, um gegen sie zu gewinnen oder um sie zu bekehren, sondern um sie zu verstehen - daß wir dann Fragmente einer gemeinsamen Basis entdecken werden . Wir werden das verheißene Land nicht erreichen, aber wir werden ein Land der Verheißung errichten.“
Wer Hoffnung haben möchte ein wenig an einem Land der Verheißung mitzubauen der sollte, ja der muss Francesca Melandri lesen. Und wer will kann aus der dort behandelten Geschichte und damit von ihren Geschichten viel lernen.
Dr. Hannes Swoboda, President of the International Institute for Peace (IP), started his career in urban politics in Vienna and was elected member of the European Parliament in 1996. He was Vice President of the Social Democrat Group until 2012 und then President until 2014. He was particularly engaged in foreign, enlargement, and neighborhood policies. Swoboda is also President of the Vienna Institute for International Economics, the Centre of Architecture, the University for Applied Science - Campus Vienna, and the Sir Peter Ustinov Institute.