2026, und zwar genau am 18. April, wird es 75 Jahre her sein, dass die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) gegründet wurde. Die EGKS ist die Vorläuferorganisation der Europäischen Union. Vielen immer wieder geäußerten Vorurteilen zum Trotz stand dabei nicht das wirtschaftliche Interesse im Vordergrund, sondern der Wunsch nach einem Ende der kriegerischen Auseinandersetzungen innerhalb Europas und weltweit. Der wirtschaftliche Zusammenschluss in Bezug auf die Ressourcen Kohle und Stahl, wesentliche Elemente für die militärische Rüstung sollte in Zukunft inner-europäische Kriege verhindern.
Wirtschaftsunion im Dienste des Friedens
Robert Schuman, der französische Außenminister hat in seiner berühmt gewordenen Erklärung vom 9. Mai 1950 den Grundstein für die Europäische Einigung gelegt. Sie beginnt mit folgenden Sätzen: „Der Friede der Welt kann nicht gewahrt werden ohne schöpferische Anstrengungen, die der Größe der Bedrohung entspricht. Der Beitrag, den ein organisiertes und lebendiges Europa für die Zivilisation leisten kann, ist unerlässlich für die Aufrechterhaltung friedlicher Beziehungen.“
Die 1950 gesprochenen Sätze gelten heute genauso, haben sogar an Aktualität noch gewonnen. Wer Frieden in Europa bewahren bzw. wiederherstellen möchte, muss für ein „organisiertes und lebendiges Europa“ eintreten. Allerdings, die Realität ist eine andere. Europa ist nicht gut organisiert. Das in außenpolitischen Fragen vorherrschende und nur mit „Tricks“ zu überwindende Prinzip der Einstimmigkeit im Europäischen Rat verhindert - oder verzögert zumindest allzu lange - wichtige Entscheidungen. Und der erstarkende Nationalismus blockiert vielfach die notwendigen Reformen, vor allem mutige Schritte in Richtung Ertüchtigung und Erweiterung der EU. Dabei gilt weiterhin, dass beides notwendig ist, um die EU zu stärken, dabei muss aber eine Vereinfachung der Entscheidungsmechanismen der Erweiterung voran gehen. Leider merkt man bei den europäischen Staats- und Regierungschefs nichts von den von Robert Schuman geforderten „schöpferischen Anstrengungen“! Unlängst haben sie in Bezug auf die eingefrorenen russischen Guthaben und in Bezug auf das Mercosur Handelsabkommen wieder ihre Mutlosigkeit unter Beweis gestellt.
Europas wirtschaftliche Schwächen
Hinzu kommt noch eine deutliche Schwäche auf wirtschaftlichem Gebiet. Entscheidend sind heute nicht mehr Kohle und Stahl. Aber eine ausreichende Versorgung mit - nachhaltiger - Energie zu wettbewerbsfähigen Preisen ist eine wesentliche Voraussetzung für die Stärkung der europäischen Industrie. Weiters wäre die technologische Lücke gegenüber den USA und inzwischen auch gegenüber China zu schließen. Wobei China vor allem durch seine langfristig angelegte Strategie, was essentielle, kritische Rohstoffe betrifft, Europa in große Abhängigkeit von chinesischen Exporten gebracht hat.
Anton Jäger hat in einem Beitrag in der New York Times - International Edition (17.12.2025) unter dem Titel „How Europe can shed its neurosis“ kurz und bündig Europas Problem zusammengefasst: „Europas Technologie kommt aus Amerika und seine kritischen Mineralien aus China“. Er schließt daraus nicht zu Unrecht, dass Europa seine globalen Ansprüche zurücksetzen und sich mit einer bescheideneren Rolle zufriedengeben müsste. Eine solche Bescheidenheit müsste auch durch neue Allianzen, vor allem mit den Ländern des „Globalen Südens“, verbunden werden. Unabhängig davon müsste Europa sich eingestehen, dass es den erfolgreichen Ansatz, der der Gründung der Gemeinschaft für Kohle und Stahl zugrunde lag, nicht konsequent weiterverfolgt und ausgebaut hat. Bescheidenheit und Mutlosigkeit sind zwei verschiedene Dinge.
Der Mangel an entschlossenem Handeln betrifft generell die Forcierung von Forschung und Entwicklung, aber vor allem auch die Herstellung eines Europäischen Kapitalmarktes. Ohne einen solchen Kapitalmarkt werden selbst in Europa entwickelte Spitzentechnologien bzw. die entsprechenden Startups ihre Finanzierung und dann auch ihre Umsetzung und ihre Aktivitäten in den USA etablieren. Und was die seltenen Erden und andere kritische Rohstoffe betrifft hat sich Europa allzu sehr auf China verlassen und zu spät an die langfristige Versorgung und Vorsorge mit diesen wichtigen Materien gedacht. Wobei grundsätzlich sowohl die USA als auch insbesondere China einerseits langfristiger denken und handeln und anderseits auch ihre Macht gezielter einsetzen. Sowohl mit den USA als auch mit China bedarf es einer Mischung von Zusammenarbeit und klarer Interessenvertretung - beides allerdings bedingt eine stärkere Einigkeit in Europa selbst.
EU als Bündnis für Sicherheit und Verteidigung
Was die gemeinsamen Verteidigungsanstrengungen betrifft, so hat die französische Nationalversammlung 1954, also wenige Jahre nach den zukunftsweisenden Entscheidungen zur EGKS der Mut verlassen und die Gründung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft abgelehnt. Aus all diesen wirtschaftlichen und politischen Gründen ist Europa nicht fähig, den Frieden in Europa zu bewahren bzw. angesichts der russischen Aggression gegen die Ukraine wieder herzustellen. Mit großer Mühe muss Europa heute versuchen Schritte in Richtung einer “Europäischen Verteidigungsgemeinschaft“ herzustellen.
Dabei ist es realistischerweise nicht möglich kurzfristig die bestehenden Verflechtungen mit den amerikanischen Technologien und Rüstungsindustrien aufzulösen. Angesichts der Unsicherheiten, die insbesondere Donald Trump, in Bezug auf den Einsatz der NATO nach Art.5 gebracht hat, muss sich Europa auf eine größere Eigenständigkeit vorbereiten - ohne allerdings von sich aus eine radikale Trennung von den USA vollziehen zu können. Russland ist unter Wladimir Putin zum gefährlichen Aggressor mutiert, China betreibt unter Xi Jinping eine aggressive Außen- und Ressourcen Politik und die USA sind unter Trump zum ideologischen Rivalen und zum unsicheren Verbündeten geworden. Unter diesen Umständen ist ein starkes und solidarisches Europa eine Frage des Überlebens geworden.
Österreichs Rolle in Bezug auf Europas Sicherheit
In einer kürzlich stattgefunden Diskussion zur Neutralität im IIP stand auch die Frage der Rolle des neutralen Österreichs im Falle eines Angriffs - auch eines hybriden Angriffs - gegen ein EU-Mitglied zur Debatte (siehe „Auslaufmodell Neutralität“ iipvienna.com bzw. auf YouTube). Nach Art.42 des EU-Vertrags besteht grundsätzlich eine Beistandspflicht „im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedsstaates“ seitens der anderen Mitgliedsstaaten. Hinzu kommt aber für neutrale, nicht-paktgebundene Staaten eine Ausnahmeklausel, die den „besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten unberührt“ lässt.
Österreich hat ja durch sein Neutralitätsgesetz erklärt, das es „keinen militärischen Bündnissen beitreten und die Errichtung militärischer Stützpunkte fremder Staaten auf seinem Gebiet nicht zulassen“ werde. Die Frage, die sich stellt ist, ob dies eine - Unterstützung eines angegriffenen Staates - sei es durch Waffenlieferungen oder durch das Gewähren von Truppentransporten zu Land oder Luft - ausschließt. Ralph Janik meint in dem von ihm und Franz Cede jüngst erschienen Buch „Auslaufmodell Neutralität“ grundsätzlich dazu: „Wer angreift, egal aus welchen Gründen und mit welchen Vorwänden, verletzt das Völkerrecht. Wer sich verteidigt, verletzt es nicht“. Für ihn ist das Konzept der Neutralität, das aus Zeiten stammt, in denen nicht immer klar ersichtlich war, wer der Angreifer und wer der Angegriffene war, obsolet geworden. Heutzutage - und insbesondere im Falle der russischen Aggression gegen die Ukraine ist klar, wer das Völkerrecht verletzt.
In Österreich aber gibt es nach wie vor eine breite Unterstützung für die Neutralität, um nicht in Konflikte verwickelt zu werden. Und eine offene Debatte über die Möglichkeiten und Begrenzungen infolge der Neutralität findet kaum statt. Es bleibt ein schwieriger Pfad einerseits die militärische Neutralität beizubehalten und anderseits das Völkerrecht wirksam zu verteidigen und die europäische Solidarität tatkräftig auszuüben. Christoph Schwarz spricht in einem Podcast des IIP (Peace Matters Nr.37 siehe iipvienna.com und YouTube) von einer Außenpolitik auf zwei Beinen: der Neutralität und der Europäischen Politik. Fragt sich nur, ob die beiden Beine in dieselbe Richtung gehen bzw. überhaupt gehen können.
Gegenseitige Solidarität
Vor allem angesichts der unsicheren und zum Teil sogar feindlichen Haltung der heutigen USA gegenüber Europa, kann sich Österreich nicht darauf verlassen, dass im Falle eines Angriffs auf einen Mitgliedstaat der EU und der NATO die USA dem Einsatz der Beistandsverpflichtung nach Art.5 des NATO-Vertrags zustimmen. Der amerikanische Ökonom und populäre Podcaster Noah Smith meinte in seinem Substack Kommentar vom 7.12 2025, dass die heutigen USA „sich nicht um die Demokratie, oder Allianzen oder die NATO oder das europäische Projekt scheren. Sie kümmern sich um die Westliche Zivilisation.“ Das ist auch die Kernaussage der neusten Sicherheitsstrategie von Präsident Trump. Trump kritisiert und bekämpft darin Europa ob seiner liberalen Demokratie die seiner Meinung nach die „Westliche Zivilisation“
Und dann kann es leicht sein, dass im Falle eines Angriffs auf ein Mitgliedsland der EU der Art.42/7 des EU-Vertrags zur Anwendung kommt. Und auch wenn Österreich sich rechtlich auf den „besonderen Charakter“ seiner Sicherheits- und Verteidigungspolitik berufen kann, so ist es im gerade im Interesse seiner eigenen Sicherheit sich solidarisch zu zeigen. Denn das ist die Voraussetzung dafür, selbst auf die Solidarität der anderen EU-Mitglieder hoffen zu können. Und nichts schließt aus, dass auch Österreich selbst Ziel eines Angriffs sein kann - vor allen dann, wenn der potentielle Angreifer nicht mit einer Unterstützung durch ein anderes EU-Mitglied rechnen muss.
Zerfall, starkes Bündnis oder doch Weiterwursteln?
Der Angriff Russlands gegen die Ukraine und die Arroganz und „Neutralität“ Amerikas hat die EU immer mehr zu einem Sicherheitsbündnis geschmiedet. Oder anders gesagt, wenn Europa als Gemeinschaft überleben möchte, müsste die Europäische Union stärker zu einem Bündnis der Sicherheit und der Verteidigung werden. Und dazu müssten sich die führenden Köpfe erinnern, mit welcher Motivation und mit welchen Zielen vor 75 Jahren die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl gegründet wurde.
Im Titel dieses Beitrags erwähnte ich die Alternativen Zerfall oder starkes Bündnis für die Zukunft der Europäischen Union. Vielleicht gibt es aber doch noch eine Alternative, die vielen Politikern/Politikerinnen, die in der EU Entscheidungen treffen - oder besser klare Entscheidungen treffen sollten - sehr willkommen ist. Sie sind das Durchwurschteln gewohnt und wollen darauf nicht verzichten. Kurzfristig ist das sogar die angenehmere Alternative zum Zerfall. Aber sie liefert den inneren und äußeren Gegner der Europäischen Einigung die Chance aus diesen Schwächen heraus weiter an der Zerstörung des Europäischen Projekts zu arbeiten. Und leider gilt was Ivan Krastev kürzlich in der traditionellen vorweihnachtlichen Diskussion im Presseclub Concordia gesagt hat, dass auf Grund der starken Polarisierung in Europa keine äußere Bedrohung die Einigkeit Europas wieder herstellen kann. Das muss schon die Politik in Europa selbst besorgen.
Dr. Hannes Swoboda, President of the International Institute for Peace (IP), started his career in urban politics in Vienna and was elected member of the European Parliament in 1996. He was Vice President of the Social Democrat Group until 2012 und then President until 2014. He was particularly engaged in foreign, enlargement, and neighborhood policies. Swoboda is also President of the Vienna Institute for International Economics, the Centre of Architecture, the University for Applied Science - Campus Vienna, and the Sir Peter Ustinov Institute.

