Peter Handke und die Betroffenheit

Erschien in der März-Ausgabe der zeitgenossin

Nachdem im Dezember 2019 verkündet wurde, dass Handke den Literaturnobelpreis bekommen sollte, gab es wohl eher gemischte Meinungen. Der albanische Premier- minister Edi Rama schrieb “Ich dachte nie, dass ich einmal wegen eines Nobelpreises das Gefühl haben würde, kotzen zu müssen.” Aber der serbische Präsident Aleksandar Vučić gratulierte ihm telefonisch. Bis heute gilt Handke in Belgrad als “der Freund, den die Serben nie kaufen mussten”.

In Österreich selbst gratulierten ihm viele Persönlichkeiten von Bundespräsident Van der Bellen bis hin zur Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek. Eine kritische Reflexion und Auseinandersetzung mit seinen Werken fand nur vereinzelt statt.

Trauer für “Schlächter vom Balkan”

Handkes Theaterstücke und früheren Werke wie ‚Wunschloses Unglück‘ haben viele inspiriert. Doch im Repertoire seiner Werksammlung reihen sich zahlreiche Bücher aneinander, die die Kriegsverbrechen in Bosnien-Herzegowina relativieren. Handke pflegte zudem eine freundschaftliche Beziehung zum ehemaligen Präsidenten Jugoslawiens, Slobodan Milošević.

Ein Mann, der später “Der Schlächter vom Balkan” genannt werden würde und der sich vor dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien wegen Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantworten musste. Er starb in seiner Zelle, kurz bevor sein Urteil verkündet wurde.

Handke besuchte ihn mehr als ein Mal. Und bei seinem Begräbnis hielt er vor 20.000 Trauernden eine Rede. Man könnte sagen, das war der Moment, der das Fass zum Überlaufen brachte.

Es waren nämlich die Ideologie und die nationalistischen Bestrebungen des Milošević-Regimes, die für die brutalen Kriegsverbrechen, während der Jugoslawienkriege von 1991 bis 1999 verantwortlich gemacht werden müssen. Die Jugoslawische Volksarmee, die auf Slobodan Milošević reagierte, führte einen kurzen Krieg in Slowenien und dann einen längeren und viel blutigeren in Kroatien, wobei Städte zerstört und Verbrechen begangen wurden.

Da sie nicht in Jugoslawien bleiben wollten, entschieden sich die meisten Menschen in Bosnien und Herzegowina in einem Referendum 1992 für die Unabhängigkeit. Milošević griff ein.

Sein nationalistisches Bestreben, ein „Großserbien“ zu schaffen, wurde in Gang gesetzt. Die operativen Ziele, die damals in mehreren Dokumenten festgehalten wurden, konnten nur mit Völkermordoperationen gegen bosnische Muslime realisiert werden. Radovan Karadžić, der Vertreter der bosnischen Serben, führte eine Kampagne der „ethnischen Säuberung“ durch.

Das hieß Vergewaltigung, Mord, Massenvertreibungen, Konzentrationslager und Belagerung im großen Stil, so wie es Europa seit 1945 nicht mehr gesehen hatte.

Der “große Bruder” Milošević stellte volle finanzielle und militärische Unterstützung bereit. Im Juli 1995 betraten die Serben Srebrenica, eine Stadt im Osten Bosniens, die zur Schutzzone erklärt wurde und eigentlich von einem niederländischen Bataillon unter der Flagge der Vereinten Nationen geschützt sein sollte. Ratko Mladić, General der bosnisch-serbischen Armee, war dort, um die Einnahme von Srebrenica zu feiern.

Er erklärte, es sei der jüngste Sieg im 500-jährigen Krieg gegen „die Türken“ – ein beleidigender Ausdruck für bosnische Muslime. Einige Tage später ermor- deten die Soldaten etwa 8.000 bosnische Muslime und ver- scharrten ihre Leichen in Massengräbern. Bis heute wurden nicht alle Opfer gefunden.

Liebesbrief an Großserbien

Für Handke stellte sich diese Frage von Schuld erst gar nicht. Er entschied entschlossen, dass die eigentlichen Opfer die Serben waren und die Zahl der getöteten Bosniaken stark übertrieben wurde. Westliche Regierungen und Journalist*innen, die vor Ort berichteten, hätten aus Hass auf das serbische Volk gelogen. Ein Muster für nationalistische Propaganda, die auch bis heute noch in Belgrad atmet.

Ein Jahr nachdem der Krieg in Bosnien-Herzegowina mit dem “Dayton-Friedensabkommen” auf Eis gelegt wurde, veröffentlichte Handke das Buch ‚Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien.‘

Es war ein Liebesbrief an die Territorien, die Milošević in seinem “Großserbien” für sich beanspruchen wollte. Dazu gehört die Republika Srpska, eine politische Entität in Bosnien-Herzegowina, in der heute mehrheitlich Serben leben. Es sind die Gebiete, die während des Krieges “ethnisch gesäubert” wurden.

Nostalgie als Preis

Es ist die große Frage, die sich heute stellt. Wie sehr können seine Werke von seiner politischen Ideologie getrennt werden?

Aber selbst, wenn seine moralische Entgleisung mit seiner unkritischen Romantisierung Jugoslawiens erklärt werden könnte, ist es schwer zu begreifen, was ihn dazu bringen könnte, einem Monster wie Slobodan Milošević nachzutrauern.

Handke verspürte wohl eine Nostalgie gegenüber Jugoslawien als antiimperialistischer Kraft gegenüber dem Westen. Er war keine Ausnahmeerscheinung, sondern gehörte zu einer Gruppe von Leuten, die das ehemalige Jugoslawien idealisierten. Dabei verlor er aber seinen politischen Kompass und nutzte seine Position, zu der er durch die Literatur kam, um Ideologien aufzuwerten, die sich gegen wesentliche Menschenrechte stellen.

Seine Relativierungen oder Leugnungen der Verbrechen sind eine logische politische Fortsetzung. Er wertet dabei diejenige Ideologie auf, die für unglaubliches menschliches Leid verantwortlich ist und gibt ihr einen Boden, auf dem sie bis heute stehen kann.

Die Menschen, die zu seiner Verteidigung eilten, vertreten die Meinung, man müsse “verschiedene Interpretationen und Meinungen” zulassen. Aber wo wird die Grenze gezogen? Handke behauptet in seinen Werken unter anderem, dass bosnische Muslime kein eigenes Volk wären, sie sich im belagerten Sarajevo selbst bombardiert und den Genozid in Srebrenica selbst heraufbeschworen hätten.

Wo ist die Betroffenheit?

Für alle Überlebenden des Genozids in Bosnien-Herzegowina ist das Herunterspielen, Leugnen oder Nichtglauben ihrer eigenen Erfahrung eine Fortsetzung des Terrors. Und wer diese Dinge leugnet, ist ein Apologet für die nächsten Gräueltaten.

Heute sieht sich Handke als missverstandenes Genie. Auf Kritik reagiert er mit Zynismus. Was von ihm übrig bleibt und wovon eines Tages gesprochen wird, werden seine politischen Haltungen zu den Verbrechen im ehemaligen Jugoslawien sein. Er hielt es nicht für notwendig, mit einem Grundmaß an Menschlichkeit vorzugehen und Pietät gegenüber den Opfern zu zeigen.

Wie genau er selbst zu den Opfern steht, hat er im Wiener Akademietheater selbst beschrieben. Als ihn ein Kriegsreporter fragen wollte, warum er denn nie nach Bosnien-Herzegowina gefahren wäre oder sich mit den bosniakischen Zivilist*innen ausgetauscht hätte, belächelte Handke ihn nur.

Auf die Frage, wo denn die Betroffenheit bleibt, wieder nur Zynismus. “Betroffenheit, das kann ich schon überhaupt nicht hören”, sagt er und das Publikum lacht. “Gehen Sie nach Hause mit Ihrer Betroffenheit. Stecken Sie sich die in den Arsch!”


Dennis Miskić is a Project Assistant at the International Institute for Peace. He is currently studying Political Science at the University of Vienna. Dennis has been working as a journalist focused on nationalism, right-wing extremism, security, and migration in Southeast Europe. For his work at the Srebrenica Memorial Center, where he worked for a year, he was awarded the Austrian Servant Abroad of the Year award.