ÜBERLEBT EUROPA? Anmerkungen anlässlich der Wahlen zum EU-Parlament

Wenn wir Europa als Kontinent verstehen, so ist sein Überleben kein Thema, außer die Welt als Ganzes geht unter. Aber wenn wir unter Europa eine gemeinsam gestaltete, wirtschaftliche und politische Union verstehen, die tendenziell den ganzen Kontinent - mit Ausnahme von Russland - umfassen möchte, dann kann man berechtigte Sorge haben, ob diese Union die nächsten Jahre - unbeschadet - überleben wird. Jedenfalls gibt es mehrere fundamentale Herausforderungen, die man als bestandsgefährdend betrachten kann. Und die sollten gerade angesichts der bevorstehenden Wahlen zum EU-Parlament angesprochen werden - auch um zu einer sachlichen und konstruktiven Debatte zu kommen.

1) Die Europäische Union hat sich in den letzten Jahren einen besonderen Namen durch ihre progressive KLIMAPOLITIK gemacht. Umwelt- und auch Gesundheitsfragen standen schon lange weit oben auf der Prioritätenliste der EU-Kommission und insbesondere des EU-Parlaments. Und daher ist die EU heute keine hauptsächlich wirtschaftlich orientierte Gemeinschaft, wie manche Kritiker behaupten. Die EU versucht dabei einen schwierigen Spagat zwischen einerseits einer erfolgreichen Marktwirtschaft und anderseits dem Gebot und den Regeln einer zunehmend klimapolitisch begründeten Transformation. Vom Green Deal bis zur Ausgleichsabgabe an den EU-Grenzen beim Import von CO2 belasteten Gütern und Leistungen versucht die EU die europäische aber auch die außereuropäische Wirtschaft in die ökologische Richtung zu lenken - unabhängig von den jeweiligen kurzfristigen Kapitalinteressen. Durch das Zusammenwirken von umfangreichen Regulierungen und der privat-kapitalistischen Wirtschaft könnte so ein postkapitalistisches System entstehen, in dem der öffentliche Einfluss wieder eine größere und entscheidende Rolle spielt. In diesem System würden auch alle Beteiligten versuchen sich nicht von einigen Lieferanten wichtiger Rohstoffe abhängig zu machen. Sie würden im Gegenteil versuchen ihre Lieferquellen zu diversifizieren und auch durch eine „zirkuläre Wirtschaft“ die Wiederverwendung bzw. Wiedergewinnung von Rohstoffen deutlich zu erhöhen. Damit würde auch die rein kapitalistische Logik unterbrochen werden. 

Dennoch verstärkt sich der Widerstand gegen etliche der ökologisch begründeten Maßnahmen. Die Angst vor wirtschaftlichen Nachteilen auf Grund klimapolitischen Maßnahmen wird wieder stärker geäußert. Zuletzt ist das bei verschiedenen - zum Teil gewalttätigen Demonstrationen zum Ausdruck gekommen. Hinzu kommt eine grundsätzliche Skepsis gegen zu viel Vorschriften, die ins tägliche Leben eingreifen. In der Folge wählen in vielen Ländern die Menschen zunehmend Parteien, die eher zu den Klimaleugnern gehören.

Die Menschen wollen zwar einen aktiven Staat, der soll aber nur die anderen treffen - insbesondere das Ausland bzw. die „Ausländer“, die für viele Übel verantwortlich gemacht werden. Das betrifft einerseits die großen Länder wie die USA und China, die für die Umweltbelastungen verantwortlich gemacht werden, aber andererseits auch die Zuwanderer. Übersehen bzw. verdrängt wird dabei, dass Europa ohne internationalen Handel und ohne Zuwanderung deutliche Wohlstandsverluste erleiden würde. Viele Jobs in der Industrie, im Bausektor aber vor allem auch im Pflegebereich könnten nicht besetzt werden und das würde die wirtschaftliche Entwicklung und den sozialen Wohlstand stark beinträchtigen.

2) Damit sind wir bei einem besonders heiklen Thema: der MIGRATION. Grundsätzlich müssen wir zwischen der freiwilligen und der erzwungenen Migration unterscheiden. Beide Formen sind im Laufe der Jahre angestiegen, mit Spitzenwerten 2015. Die Europäische Union - in Erkenntnis, dass nationale Regeln und Maßnahmen nicht effektiv sein können - bemühte sich viele Jahre um eine gemeinsame Migrations- und Asylpolitik. Ziel war die Verteilung der Flüchtlinge und der finanziellen Belastung infolge der Unterbringung und Integration gerechter zu gestalten. Aber einige Staaten weigerten sich nicht nur eine gemeinsame Migrationspolitik zu akzeptieren, sie wollten auch keine Asylbewerber ins Land lassen.

Es sind aber auch diese Länder, die zum Teil unter der Hand, ausländische Arbeitskräfte - Nicht-EU-Staatsangehörige - anwerben.  Und auch unter rechten Regierungen ging der Zustrom ausländischer Arbeitskräfte weiter. Aber genau dieselben Kräfte polemisieren gegen die europäische, zu „menschlich“ gestaltete Migrationspolitik. Es muss der EU gelingen, durch eine gut konzertierte und umfassende Konzeption, die für die wirtschaftliche Entwicklung notwendige Zuwanderung und eine humanitäre Asylpolitik auf einen Nenner zu bringen. Die jüngst getroffene Vereinbarung bezüglich Asyls und Migration im Rahmen der EU macht es möglich, entscheidend ist aber die Umsetzung. Noch ist eine allgemein akzeptierte Migrationspolitik nicht in Sicht. 

3) Europa erlebte einen Schock als RUSSLAND seine Drohung wahr machte und mit seinen Truppen in das Nachbarland Ukraine einmarschierte - unter eindeutiger Verletzung des Völkerrechts. Der Angriffskrieg gegen die Ukraine gilt unmittelbar „nur“ einem Nachbarn der Europäischen Union. Aber der imperialistische Drang Russlands bzw. Putins mag weitergehen, wenn die EU - und die USA - der Ukraine nicht zur Hilfe kommen. Aber schon macht sich auch in der EU eine Müdigkeit in der Verteidigungsbereitschaft breit. Wird die Europäische Union die Hilfe an die Ukraine aufrechterhalten - auch wenn Trump gewählt wird und eine Kehrtwendung in der Ukraine Politik der USA herbeiführt? 

Darüber hinaus stellt sich die grundsätzliche Frage, ob und wie Europa in eine Verteidigungsunion verwandelt werden kann bzw. eine solche der bestehenden EU hinzugefügt werden soll. Ist eine solche Verteidigungsdimension mit dem Gründungsmythos und dem Charakter der Friedensunion vereinbar oder verlangen die neuen geopolitischen Bedingungen eine solche geradezu? Und wie kann eine Union, die sehr unterschiedliche Vorstellungen von den Werten, die es zu verteidigen gilt, hat, eine effiziente Verteidigung organisieren? Was konkret die Hilfe für die Ukraine betrifft, so gibt es bereits eine Absetzbewegung einiger Regierungschefs. Sind unter diesen Bedingungen der Uneinigkeit eine europäische Verteidigungspolitik bzw. gemeinsame militärische Anstrengungen glaubwürdig? Und wenn sogar über eine Europäisierung des französischen Atompotential geredet wird, dann wird die Schwäche einer uneinigen EU ein noch stärkeres Hindernis für eine gemeinsame Verteidigung.

Unabhängig davon stellt sich die Frage, wie Europa in Zukunft - nach Ende des Krieges - mit dem großen Nachbarn Russland umgehen soll. Russland verschwindet ja nicht und auch eine drastische Politikumkehr ist nicht zu erwarten. Dennoch wird es langfristig vernünftig sein, politische und wirtschaftliche Beziehungen wieder aufzunehmen - allerdings ohne in eine neuerliche Abhängigkeit zu kommen. Damit sind wir auch beim Thema der Abrüstung. Momentan wird darüber nicht geredet. Im Gegenteil immer mehr wird aufgerüstet und neu Waffengattungen werden entwickelt. Das ist derzeit auch unvermeidlich, dennoch gerade Europa darf das Ziel einer friedlichen Welt, in der die Streitigkeiten durch Vermittlung und Kompromiss gelöst werden, nicht aus den Augen verlieren. 

Auf der anderen Seite scheint nun Wirklichkeit zu werden was US-Präsident Bush als „Achse des Bösen“ bezeichnet hat. Russland und der Iran sowie Russland und Nord-Korea sind jeweils Verbündete, die die Welt unsicherer machen. Diese neuen Verbindungen entschuldigen nicht die aggressiven und völkerrechtlichen Aktionen der USA. Und zumindest Präsident Trump hat durch seine unverantwortliche Iran Politik, vor allem durch die Aufkündigung des Wiener Atomabkommen, seinen Beitrag zur Radikalisierung des Regimes im Iran beigetragen. Aber jetzt müsste eine kluge westliche, vor allem europäische, Politik versuchen eine globale Allianz gegen diese kriegstreibenden Mächte zu schmieden. Das geht aber nur wenn der Westen nicht selbst als kriegstreibend bzw. unterdrückend wahrgenommen wird.

4) Der Krieg zwischen ISRAEL und GAZA - mit derzeit noch nicht absehbaren regionalen Folgewirkungen - ist zwar geografisch etwas weiter von Europa entfernt als der Krieg in der Ukraine. Der Konflikt im Nahen Osten ist ein langer und langwieriger. Viele Chancen, zu einer Lösung zu kommen, sind versäumt worden. Auch die EU hat ihr Potential nicht ausgeschöpft, vor allem auch aufgrund unterschiedlicher Einschätzungen des Konflikts und der Verantwortung für die Fortsetzung der Streitigkeiten. Vor allem standen europäische Bemühungen immer im Schatten der Amerikaner. Dafür sorgten vor allem die verschiedenen israelischen Regierungen, die sich von den USA besser verstanden fühlten und europäische Initiativen missachteten bzw. ignorierten. 

Aber wenn Europa nicht immer wieder von Ereignissen wie vom 7. Oktober und den folgenden Militärschlägen überrascht werden will, müsste es zumindest versuchen Friedensgespräche in Gang zu bringen. Aber selbst um ernsthafte Gespräche zu initiieren, braucht die EU viel Überzeugungskraft und Bereitschaft Druck auszuüben. Darüber sind sich aber die Regierungen nicht einig, vor allem auch nicht darüber, welche Seite einem stärkeren Druck ausgesetzt werden soll. Entscheidend ist aber, ein Bündnis mit jenen arabischen Staaten einzugehen, die an einem Ruhigstellen und dann auch an einer friedlichen Lösung des Konflikts interessiert sind. Und wichtig ist nach wie vor, die USA an Bord zu haben. Das wird allerdings mit einem Präsidenten Trump nicht so leicht sein. Schon Präsident Biden ist zu zögerlich in seinen Bemühungen, Israel zu Kompromissen zu bewegen und die verschiedenen militärischen Aktionen der USA in der Region gehen auch über die Selbstverteidigung hinaus.

5) Die Europäische Union hatte nach vollzogener Entkolonialisierung und wachsender Entwicklungshilfe und ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT die Hoffnung auf enge Partnerschaft mit den Ländern des Globalen Südens. Aber schon an der Haltung vieler Länder zu den beiden für Europa so entscheidenden Kriegen sieht man oftmals konträre Ansichten zu den europäischen Beurteilungen. Die Ungeduld der südlichen Länder mit ihrem - zum Teil allerdings auch selbst verschuldeten - wirtschaftlichen Zurückbleiben und mit der nach wie vor ungerechten Verteilung von Umweltschäden bis zu verfügbaren Finanzmitteln belasten das Verhältnis zwischen Nord und Süd. Die Überschuldung vieler Länder - und der mangelnde Wille der Kreditgeber zur Entschuldung - macht es ihnen fast unmöglich aus der Schuldenfalle herauszukommen. 

Anderseits gibt es im Globalen Süden durchaus erfolgreiche Länder wie China, die sich stark genug fühlen, um als regionale und globale Akteure eine größere Mitsprache bei der Gestaltung der internationalen Beziehungen und Organisationen einzufordern. Sie sind auch bereit Konflikte mit ihren Nachbarn aber auch mit anderen globalen Akteuren, insbesondere mit den USA, einzugehen. So entsteht eine Multipolarität, die weniger durch Zusammenarbeit als durch Konkurrenz gekennzeichnet ist. Damit steht sie auch im Gegensatz zur Multilateralität, also der internationalen Zusammenarbeit, die vor allem im Rahmen der UNO-Familie geübt wird. Die Europäische Union hat sich immer den multilateralen Grundsätzen verpflichtet gefühlt, muss sich aber immer mehr zu einem Akteur/Pol in einer multipolaren Welt verändern. Allerdings, bisher ohne militärische Dimension - im Gegensatz zu den USA, zu Russland, China etc. 

6) Das Europa von heute, eine RECHTSGEMEINSCHAFT, kann seine Vergangenheit nicht abschütteln und vergessen machen. Edgar Morin meinte einmal: „Sucht man nach dem Wesen Europas so findet man nur einen verschwommenen, farblosen „europäischen Geist“….. So bedeutet Europa zwar Recht aber auch Gewalt, zwar Demokratie aber auch Unterdrückung, zwar Spiritualität aber auch Materialität, zwar Mäßigung aber auch Maßlosigkeit; steht es auch für Vernunft, so bleibt es doch dem Mythos verhaftet, wobei die Idee der Vernunft selber ein Teil des Mythos ist.“ Obwohl Europa weitgehend die Konsequenzen aus seiner unrühmlichen Vergangenheit gezogen hat, kam es nie zu einer gründlichen Auseinandersetzung mit diesen - vor allem aber nicht nur - historisch bedingten Widersprüchen.

Die europäische Einigung folgte nach Jahren, ja sogar von Jahrzehnten bis Jahrhunderten von Gewalt, Krieg, Maßlosigkeit. All das sollte durch die EU bzw. den entsprechenden Vorläufern bekämpft und verhindert werden. Willkür und Unrecht wurde zunehmend durch Recht inklusive der Grundrechte ersetzt. Dieses europäische Recht gilt vor allem für die eigenen Bürger*innen aber zunehmend auch für Asylwerber und andere Migrant*innen. 

Inzwischen fühlt sich eine wachsende Zahl an Menschen durch genau diese Rechtsgemeinschaft in ihrer Freiheit beschränkt. Immer lauter werden die Forderungen nach Lockerung von rechtlichen Verpflichtungen insbesondere gegenüber Nicht-EU-Bürger*innen. Zuletzt gab es von extrem rechter Seite sogar Forderungen nach Ausbürgerungen und Ausschaffungen. Die politischen Gruppierungen, die dem nationalen Recht den Vorrang vor dem europäischen Recht geben wollen, werden immer stärker. Damit wird aber eine Säule der europäischen Einigung zum Einsturz gebracht werden. Insbesondere die Anerkennung und Durchsetzung der Grund- und Freiheitsrechte vor unabhängigen Gerichten ist wesentlich und unersetzlich für das nach dem Faschismus und dann auch nach dem Kommunismus neu geschaffene Europa. Und diese grundsätzlichen Rechte gelten nicht nur für EU-Staatsbürger, vor allem für Schutzsuchende. Und in diesem Sinne muss mit aller Entschiedenheit Aussagen wie jener des polnischen Präsidenten Duda entgegengetreten werden, wenn er sich gegen den „Terror des Rechtsstaates“ aussprach!

7) Im Zusammenhang mit dem Ukraine Krieg ist die Frage der ERWEITERUNG der Europäischen Union wieder auf der Oberfläche der europäischen Anliegen aufgetaucht. Zwar wurden mit Ausnahme der Türkei die bestehenden Kandidaten weiter als mögliche zukünftige Mitglieder behandelt, aber auf beiden Seiten herrschte keine große Begeisterung bzw. wurden keine Initiativen gesetzt, um die Vorbereitung auf die Erweiterung zu beschleunigen und zu intensivieren. Mit den Aufnahmeansuchen seitens der Ukraine und von Moldawien und abgeschwächt mit den Bestrebungen von Georgien kam eine neue Dynamik ins Spiel. 

Dennoch besteht kein Zweifel, dass noch ein langer Weg zu gehen ist, bis die EU erweitert werden kann. In manchen Fällen gibt es sogar deutliche Rückschläge zu verzeichnen, denken wir nur an Serbien mit Präsident Vucic. Aber auch ein so großes und kriegsbeschädigtes Land wie die Ukraine zu integrieren ist kein leichtes Unterfangen. Es ist grundsätzlich sehr schwierig den Erweiterungsprozess am Leben zu halten, wenn es keine realistische Chance auf einen baldigen Beitritt gibt. Das vom gegenwärtigen EU-Ratspräsident Michel genannte Zieldatum 2030 verstrahlt zwar einen Optimismus, der helfen kann Enttäuschungen hintanzuhalten, aber Sicherheit verschafft so ein Datum nicht. Und vor allem wird sich auch die EU selbst besser organisieren müssen, um eine größere und vielfältigere EU nicht in die Selbstblockade zu führen. 

Was helfen kann ist die in letzter Zeit propagierte schrittweise Integration in die EU. Bevor die Vollmitgliedschaft ausgehandelt und vereinbart wird sollen die einzelnen Kandidaten an spezifischen Teilen der europäischen Integration teilnehmen - ohne schon stimmberechtigt zu sein. Dennoch muss noch viel in die Aufnahmefähigkeit der EU und die Integrationsfähigkeit der Beitrittskandidaten investiert werden. 

8) Zu den spezifischen, die EU berührenden, Herausforderungen kommen noch allgemeine Entwicklungen, die auch die EU zum Handeln zwingen. Sie liegen vor allem im Bereich der NEUEN TECHNOLOGIEN. Eine davon ist das Vordringen der Künstlichen Intelligenz in alle Lebensbereiche. Diese neue und vielfach noch nicht ausgereifte Technologie bietet große Chancen das umfangreiche Wissen, das über Jahrhunderte angefallen ist, allen Menschen zugänglich zu machen. Aber diese Technologie kann auch gefährlich sein, insbesondere wenn die Informationssammlung und -verarbeitung nicht nachvollziehbar ist oder auf Unwahrheiten beruht und solche verbreitet.

Die EU versucht bereits durch Regulierungen die negativen Konsequenzen und den Missbrauch solcher Technologien zu verhindern. Aber wie auch im Bereich der Social Media läuft man mit öffentlichen Eingriffen immer den neuen technologischen Entwicklungen hinter her. Und es ist schwierig von Europa aus globale Entwicklungen und Konzerne zur Anerkennung europäischer Regulierungen zu zwingen. Genauso schwierig ist es zu verbindlichen Regeln auf globaler Ebene zu kommen. Aber die EU muss hier am Ball bleiben.

Und nun? 

Angesichts dieser widersprüchlichen Herausforderungen steht die Europäische Union als ein unfertiges Projekt mit unterschiedlichen Ideen und Vorstellungen ihrer führenden politischen Kräfte vor fast unlösbaren Aufgaben. Um nochmal auf Edgar Morin zurückzukommen: „Europa ist ein ungenauer Begriff. Er bezeichnet etwas, das aus einem Tohuwabohu entstanden ist, keine festen Grenzen hat und von sich verändernder Gestalt ist; etwas, das Verschiebungen, Brüche und Wandlungen erfahren hat.“ Und noch bevor die Europäische Union sich konsolidieren konnte, ist sie einem neuen - inneren und äußeren - Tohuwabohu ausgeliefert. Die große Frage ist, ob die Wahlen zum Europäischen Parlament bzw. das Wahlergebnis dieses Chaos noch verstärken wird oder etwas mehr Stabilität in die Europäische Union einbringen kann. 

Dabei müssen wir davon ausgehen, dass es mehr als in bestehenden Nationalstaaten schwierig ist, sich auf eine(!) Erzählung zu einigen. So meint die Rechtsexpertin Eva Ricarda Lautsch: „In der vielleicht „ever closer“, aber jedenfalls „ever changing“ Union Europas existiert nun nicht eine, sondern es existieren viele Erzählungen gleichzeitig, die jeweils unterschiedliche Vorstellungen von der Gestalt und Funktionsweise dieser Ordnung hervorbringen.“ Aber es bedarf dennoch „einer übergreifenden Erzählung, die ein wahrhaft gemeinsames Verständnis dieser europäischen Ordnung überzeugend abbilden kann.“

Man kann natürlich nicht erwarten, dass sich alle politischen Kräfte auf eine solche gemeinsame Erzählung einigen. Aber diejenigen, die sich zum Projekt Europa bekennen, sollten versuchen, ihre Erzählungen im Kern zum Decken zu bringen. Und dann sollten sie die spezifischen Vorstellungen vortragen, die aus ihrer Sicht Europa nach vorne bringen können. Darüber sollten auch die Pro-Europäer streiten aber gemeinsam gegen jene argumentieren, die durch die Zerstörung der Europäischen Union den Menschen in Europa große Nachteile zufügen wollen.

Der Wirtschaftskommentator der Financial Times hat angesichts der globalen “Gefahren in unordentlichen Zeiten” gemeint: “Als entscheidende Antwort müssen die Zerbrechlichkeiten reduziert, die Schocks gemanagt werden sowie die Risiken eingeplant und die treibenden Kräfte verstanden werden.“ Nun das mag alles wichtig sein, ist aber als Antwort an die Sorgen und Ängste der Bürger*innen zu wenig. Da muss die Politik schon mehr liefern, ohne allerdings in den simplen Populismus zu fallen. Die Weiterentwicklung der EU müsste als bedeutender geschichtlicher Prozess verstanden werden. 

1) Die Europäische Union muss weiterhin eine führende Rolle in der globalen Klimapolitik einnehmen. Ohne eine solche Rolle könne die dringendsten Ziele der für das Überleben der Menschheit notwendigen gesellschaftlichen Veränderungen nicht erreicht werden. Die EU muss aber den Dialog mit den Bürger*innen verstärken und die Vorteile dieser Politik in den Vordergrund stellen. Und sie muss besonders die Bedenken und Ängste der sozial Schwachen ernst nehmen. 

2) Migration darf nicht grundsätzlich als „vermeidbares oder unvermeidbares Übel“ angesehen werden, sondern als Beitrag, den Wohlstand und die soziale Versorgung der europäischen Bevölkerung aufrecht zu erhalten. Dabei muss - jenseits der Hilfe für Asylsuchende - das Recht der EU-Staaten, die Zuwanderung zu regeln und zu kontrollieren, unterstrichen werden. Und dazu gehört auch der gemeinsame Schutz der Aussengrenzen um die Vorteile der offenen Grenzen im Schengenraum zu genießen. 

3) Der russische Angriffskrieg muss zu einem Umdenken in der europäischen Verteidigungspolitik führen, ohne allerdings den Charakter der Friedensunion aufzugeben. Eine europäische Friedensordnung muss das Ziel bleiben und ein militärischer Interventionismus als Hilfspolizist der USA muss unter allen Umständen vermieden werden. Dies muss in einer klar formulierten Europäischen Verteidigungsdoktrin festgehalten werden. 
4) Der Gaza Krieg muss zum Anlass genommen werden, den abgebrochenen bzw. unvollendeten Staatengründungsprozess weiterzuführen. Ob das besser in einer klassischen Zwei-Saaten Lösung oder in einer Staatenunion geschieht, kann derzeit nicht beantwortet werden. Auch kann eine Lösung nur in einem langen Prozess herbeigeführt werden. Aber er muss begonnen werden. 

5) Es war und ist unvermeidlich, dass der „Globale Süden“ politische und/oder wirtschaftlich aufholt. Das gibt auch die Chance, das ungleiche und konfliktreiche Verhältnis zwischen Nord und Süd zu entspannen und gemeinsam an der Lösung der globalen Herausforderungen - von einer globalen Friedensordnung bis zur Klimapolitik - zu arbeiten. 

6) Europa hat durch seine Neugründungen nach 1945 einen historisch bedeutsamen Schritt in Richtung Freiheit, Sicherheit und Frieden getan. Die Weiterentwicklung des Rechts hat diesen Zielen Rechnung getragen. Europa sollte sich mit Stolz auch weiterhin zu diesen Errungenschaften bekennen und den Weg zurück in den Status des Unrechts und der Unfreiheit zurückweisen. 

7) Die Europäische Union sollte alle Möglichkeiten ausschöpfen auch die europäischen Nachbarn in die europäischen Rechtsgemeinschaften einzubeziehen. Das kann nicht über Nacht geschehen und sollte gut vorbereitet werden. In diesem Sinn sollte ein Hineingleiten der zukünftigen Mitglieder in die EU mit stufenweiser Übernahme von Rechten und Pflichten erfolgen. 

8) Viele neue Technologien, zuletzt die Künstliche Intelligenz machen Menschen Angst. Und ohne Zweifel können - und werden tatsächlich - diese Technologien verwendet, um falsche Meldungen zu verbreiten und untergraben so auch die Demokratie. Aber sie können auch durch die Verarbeitung einer Unmenge von Daten dazu verwendet werden, um Nutzen zu stiften. Künstliche Intelligenz kann in der Medizin zu genaueren Diagnosen herangezogen werden, sie können im Unterricht, vor allem auch schwächere Schüler*innen, beim Lernen und Arbeiten unterstützen. Dasselbe gilt für den Arbeitsprozess. Und auch für die Umsetzung der Klimapolitik kann die Künstliche Intelligenz ein wertvolles Hilfsmittel sein. 

Kritischer Optimismus 

Auch wenn starke populistische und reaktionäre Kräfte - von innen und von außen - gegen die Europäische Union ankämpfen, sollte die Vision eines gemeinsamen, auf grundsätzlichen Werten und Überzeugungen gegründeten, Europas nicht aufgegeben werden. Pragmatisches Vorgehen, vor allem in den internationalen Beziehungen, stehen dem nicht entgegen. Überzeugungen zu haben, bedeutet nicht mit Arroganz anderen gegenüber aufzutreten. Sie durch das eigene Beispiel in die internationalen Beziehungen einzubringen ist entscheidend. Es gilt immer eine Wertegemeinschaft zu verteidigen und nicht die eigene Macht. Und die gilt es vor allem gegen diejenigen zu vertreten, die die europäische Demokratie aushöhlen wollen. Die Situation ist nicht ganz unähnlich der in den USA. 

Entscheidend für einen europäischen Wahlkampf - jenseits nationalistischen Populismus - wird dabei sein, ob die pro-europäischen Kräfte glaubhaft darstellen können, welche persönliche und gemeinschaftliche Nachteile ein Zerbrechen der EU mit sich bringen würde. Die EU ist und bleibt ein unvollständiges und unvollendetes Projekt. Und da gibt es manches zu kritisieren. Aber ihr Zerfall und die Rückverwandlung in eine reine Wirtschaftsgemeinschaft würde viele Errungenschaften zunichte machen. Es geht um viel bei diesen Wahlen und das sollte man auch klar erkennen können. 

Und schließlich sprechen auch die „nackten Zahlen“ für einen Weiterbestand der Europäischen Union. Auch für einen Nettozahler wie Österreich „rechnet sich“ die EU weil - wie der Wirtschaftsforscher Gabriel Felbermayr nachweist - der wirtschaftliche Nutzen und damit auch der Beitrag zum Wohlstand weitaus größer ist als der Betrag den Österreich in das EU Budget einzahlt. Aber natürlich kann man einiges verbessern. Wie und wodurch das zu diskutieren sollten gerade auch auch im Hinblick auf die Wahlen zum Europäischen Parlament diskutiert werden. 


Dr. Hannes Swoboda, President of the International Institute for Peace (IIP), started his career in urban politics in Vienna and was elected member of the European Parliament in 1996. He was Vice President of the Social Democrat Group until 2012 and then President until 2014. He was particularly engaged in foreign, enlargement, and neighborhood policies. Swoboda is also President of the Vienna Institute for International Economics, the Centre of Architecture, the University for Applied Science - Campus Vienna, and the Sir Peter Ustinov Institute.