KUNST UND GLOBALISIERUNG - LERNEN VON DER PERIPHERIE

Wenn wir von Globalisierung sprechen, dann meinen wir meistens die internationalen wirtschaftlichen Verknüpfungen und gegenseitigen Abhängigkeiten. Diese Globalisierung ging von den westlichen kapitalistischen Staaten aus. Kolonialismus und Abhängigkeiten von den Märkten der Reichen unterstrichen die Ungleichheiten von Zentrum und Peripherie. Aus westlicher Perspektive - die sich selbst im Zentrum der Welt sieht - war jedenfalls eine deutliche Hierarchie zu erkennen. Auf der einen, höheren Stufe stand - vor allem die europäische - Kunst (fine arts). Die unterschied sich klar von der „primitiven“ Kunst der „unterentwickelten“ Völker. Sie war von ethnologischem Interesse, war aber nicht gleichwertig der europäischen Kunst anzusehen. Zwar waren Picasso, Gauguin und andere Künstler durchaus angetan von einzelnen Objekten der „primitiven“ Kunst und dies hatte durchaus auch Einfluss auf ihr künstlerisches Schaffen genommen.

Erst langsam - und sicher auch durch gegenseitige Beeinflussung - bekam auch in europäischen und US-amerikanischen Augen die außereuropäische Kunst eine gebührende Anerkennung. Dazu meint die weltweit aktive Kuratorin Carolyn Christov-Bakargiev in ihrem Diskussionsbeitrag unter dem Titel „Vom Aufbruch in die Peripherie“: „Zunächst beschränkt auf Industrie, Telekommunikation und Ökonomie, globalisierte sich die Kunstszene jedoch erheblich später. Da wurde über die Ungerechtigkeit der eurozentrischen Kultur und die Notwendigkeit eines globaleren Verständnisses der Welt diskutiert“.

Da zeigt es sich auch, dass die extremen Positionen der Identitätspolitik und der Ablehnung der „Aneignung“ durch „Fremde“ zur Wahrung von Identitäten nicht den Interessen der Kunst dient. Martin Bucher meint in diesem Zusammenhang und in Anlehnung an Autor*innen wie Wole Soyinka in seinem Werk „Culture - A New World History“: „Culture…is made not only from resources of one community but also from encounters with other cultures. It is forged not only from the lived experience of individuals but also from borrowed forms and ideas that help individuals to understand and articulate their experiences in new ways. When seen through the lens of culture as property, these figures might appear to be intruders, appropriators, even thieves……False ideas of property and ownership impose limits and constraints, leading to impoverished forms of expression.”

Der nigerianische Schriftsteller und Nobelpreisträger Wole Soyinka meinte in diesem Sinn, dass es selbstverständlich notwendig ist in eine Konfrontation mit dem Kolonialismus einzutreten, dass man aber dabei durchaus einige der kulturellen Ressourcen der Kolonialmächte gegen eben diese verwenden kann.

 Auch der Philosoph Achille Mbembe aus Kamerun bekennt sich heute zur Überwindung der Politik der Identität, da eine solche mehr trennt als verbindet. In einem Brief an die deutsche Zeitung „taz“ meinte er:“ Indem ich rassische Identitäten relativierte, ihre Essentialisierung ablehnte und den Ideologien der Differenz den Rücken kehrte, wollte ich eine Theorie dessen entwickeln, was ich Gemeinsam-Sein nenne…..Früher dienten Theorien von Differenz und Identität als Hebel der Kämpfe für Gleichheit und Gerechtigkeit. Heute ist das nicht mehr der Fall.“ Und in diesem Sinn möchte er eine Stimme sein „aus diesen Weltregionen, von denen man fälschlicherweise annimmt, dass sie nichts zu sagen hätten und sich von anderen sagen lassen müssten, was sie zu denken haben.“ Aber wir müssen erkennen, dass sie uns viel zu sagen haben in einem Dialog, der eine gemeinsame und nachhaltige Welt begründen soll.

Hat Kunst eine politische Aufgabe zu erfüllen?

Kunst - ich meine in diesem Zusammenhang vorwiegend bildende Kunst - ist nach unserem westlichen Selbstverständnis frei. Zumindest ist das in Demokratien der Fall, wenngleich auch das in mehrheitlich demokratischen Ländern durch autoritäre Kräfte in Frage gestellt wird. Aber das ist ja auch eine der zentralen Auseinandersetzungen zwischen einerseits den demokratischen und anderseits den autoritären und populistischen Kräften. Rechte Gruppierungen wollen der Kunst eine rückwärtsgewandte, nationale und oft nationalistische Prägung aufzwingen. Aber auch Demokraten sollten der Kunst nichts vorschreiben, auch nicht sich politisch zu engagieren. Wenn sie das aber tut und sich kritisch mit der Welt und ihrem Zustand auseinandersetzt, dann ist das ein besonderer Gewinn. 

Vor allem heute, wo Kunst die traditionellen Formen oft hinter sich gelassen hat, finden wir vermehrt gesellschaftskritische Auseinandersetzungen. Insbesondere Video-Installationen bieten viele Möglichkeiten politische Fehlentwicklungen aufzuzeigen und in Frage zu stellen. Nicht zuletzt sind es Künstler*innen, die diesen Weg gehen.

Zu erwähnen ist hier vor allem die Iranerin Shirin Neshat, die sehr subtil, aber deutlich die iranische Männergesellschaft aufs Korn nimmt. In einem kürzlich veröffentlichten Interview meinte sie:” Für uns, die wir außerhalb des Iran leben, steht nichts auf dem Spiel und so fühlen wir uns schuldig, aber wir wollen helfen, auch wenn das sehr kompliziert ist…Es ist unsere Pflicht Lärm zu schlagen. Und die im Iran aufgewachsene aber in Österreich lebende Künstlerin Soli Kiani meint: “In meinen Augen hat Kunst vor allem geistige, emotionale, bildende, kritisierende und aufklärende Bedeutung. Sie schaut dorthin, wo meist weggeschaut wird. Kunst ist dann laut, wenn stillschweigend versucht wird, Rechte und Freiheiten einzuschränken.“

Kunst und Natur

Heute mehr denn je beschäftigen sich Künstler - insbesondere aus „peripheren“ Regionen - mit den Folgewirkungen der Ausbeutung der Natur. Dabei werden von vielen Künstler*innen auch esoterische Elemente in die Darstellung eingefügt. Aus heutiger, rationaler Sicht kann man da manches in Frage stellen, aber die Verteidigung der Natur gegen menschliche Eingriffe muss uns jedenfalls zu denken geben. Insbesondere müssen wir überlegen, ob die Ausbeutung der Natur und seiner Ressourcen durch die Industriestaaten nicht zu oft ohne entsprechende Sensibilität auf die ökologischen und sozialen Konsequenzen erfolgte bzw. noch immer erfolgt. Ob es da hilft, der Natur eine eigene Rechtspersönlichkeit zuzuerkennen, wie dies von klimabewegten Gruppen verlangt wird, ist eine Frage, auf die es sicherlich verschiedene Antworten gibt. 

Jedenfalls, die bildlichen Präsentationen - mittels Gemälde und Fotos - der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen müssen einen erschrecken. Das gilt übrigens auch für die Gewinnung von seltenen Erden und kostbaren Metallen für die Herstellung von Batterien für die Elektromobilität. Die Konsequenz muss sein, mit größter Vorsicht und mit maximalem Schutz der Umwelt und des Lebensraums der lokalen Bevölkerung vorzugehen. Oftmals handelt es sich um indigene Bevölkerungsgruppen, die ohnedies über lange Zeit hindurch diskriminiert wurde. Und es sind diese indigenen Gruppen die „die brutalen, für die westliche „Moderne“ so zentralen Dualismen wie „Natur und Kultur“ oder „menschlich und nichtmenschlich“ in Frage“ stellen. (Carolyn Christov-Bakargiev)

Afrika meldet sich

Nicht zufällig erlebt auch die afrikanische Kunst eine verstärkte Anerkennung. Das hilft den Künstler*innen, aber erwirtschaftet auch Gewinne für die Händler und Sammler. Und von daher kommt auch die entsprechende Publicity. Jedenfalls bekommen afrikanische Künstler*innen verstärkt einen Auftritt in westlichen Museen und Ausstellungen. Das geht von den führenden Museen in London und Paris bis zur Kunsthalle in Krems. Und auch auf der letzten Architekturbiennale war Afrika stark vertreten. Die Architektur Biennale 2023 in Venedig wurde von der ghanaisch-schottischen Architektin Lesley Lokko kuratiert. Sie meinte im Vorwort zum Ausstellungskatalog: „Zum allerersten Mal fiel das Scheinwerferlicht auf Afrika und die Afrikanische Diaspora, diese fluide und ineinander verstrickte Kultur der Menschen afrikanischer Herkunft, die jetzt den Globus durchstreift“. Daraus entsteht dann ein „irritierendes und wunderbares Kaleidoskop von Ideen, Zusammenhängen, Aspirationen ……., die auf die Herausforderungen unsrer Zeit antworten.“

Auch die Kunstbiennale 2024, die von einem Lateinamerikaner, Adriano Pedrosa, geleitet wird, wird sich unter dem Motto „Foreigners Everywhere“ stark „afrikanischen“ Themen widmen. Unter anderen wird die in London geborene und in Nigeria ausgebildete Künstlerin und Aktivistin Ndidi Dike sich mit dem historischen Sklavenhandel aber auch mit aktuellen Formen der Ausbeutung und Sklaverei beschäftigen. 

Manche afro-amerikanische oder afro-europäische Künstler*innen stellen selbst die Frage, ob nicht der amerikanische bzw. europäische Einfluss auf ihre Kunst inzwischen stärker ist als der afrikanische. Aber auch die originär afrikanische Kunst ist wie jede Kunst „fremden“ Einflüssen ausgeliefert. Und so brechen bei vielen Künstler*innen afrikanische Traditionen durch - wenngleich oftmals absichtlich verfremdet - auch wenn sie im Westen leben. 

Das findet man übrigens auch stark in der afrikanischen Literatur, wobei vor allem Schriftstellerinnen mit ihrer Kritik am heimischen Machismo auffallen aber auch auf die Vorurteile der und Diskriminierung in Einwanderungsländer hinweisen. Bildende Kunst und Literatur aus Afrika geben sowohl eine kritische und trotzdem oft humorvolle Analyse und Beschreibung der afrikanischen Gesellschaften wieder, aber sie halten auch uns Europäern einen Spiegel vor, in dem wir unsere eigenen Untaten sehen können - wenn wir das auch wollen.

Die afrikanische Kunst, ob direkt vom Kontinent kommend oder vermittelt über die Diaspora, zeugt jedenfalls von der Vielfältigkeit unserer Welt und deren Lebensstile. Sie zeigt auch wie verschiedene Gesellschaften mit ihrer natürlichen Umwelt umgehen und wie diese Teil ihres alltäglichen Lebens ist. Manchen mag das zu animistisch vorkommen, ich selbst sehe darin eher eine Aufforderung darüber nachzudenken, wie wir nachhaltiger und zukunftsträchtiger mit der Umwelt umgehen könnten. Insofern kann afrikanische Kunst unser Denken stark bereichern. 

Es ist nicht verwunderlich, dass afrikanische Kunst sich auch stark mit dem Kolonialismus auseinandersetzt. Dabei kommt sicher die Kritik an den heutigen Despoten afrikanischen Ursprungs zu kurz. Aber den Künstler*innen geht es vor allem um eine Botschaft an die westliche, nicht zuletzt europäische Bevölkerung. Insgesamt ist die afrikanische Kunst mehrheitlich auch selbstkritisch. Aber der Kolonialismus hat so deutliche Spuren hinterlassen, dass die Kritik am Sklavenhandel, an dem Transfer von Ressourcen aus Afrika, an den künstlichen Grenzziehungen, an der Spaltung in ethnische Gruppen - wie in Ruanda mit furchtbaren Konsequenzen - notwendiger Bestandteil vieler künstlerischer Äußerungen ist. 

Zeigt uns die „Peripherie“ den Weg nach vorne?

Dabei ist die Kritik am Kolonialismus stark mit der Kritik an den Folgen des Raubbaus an der Natur verbunden. Hat doch der westliche Wohlstand auf vielfältigste Weise seine Wurzeln in dem mit dem Kolonialismus verbundenen Sklavenhandel und der Gewinnung der Bodenschätze in den Kolonien. Es kann nie genug betont werden, dass Afrika stark von der Klimaveränderung betroffen ist, aber nur etwa 4% zum weltweiten CO2 Ausstoß beiträgt. 

Dass sich afrikanische Künstler*innen mit beiden Phänomenen auseinandersetzen kann auch uns bei der Überwindung der Spannungen zwischen der ärmeren und primär klimabelasteten und der reichen, vor allem klimabelastenden, Welt helfen. Insgesamt können ohne ein neues System der Zusammenarbeit auf Augenhöhe zwischen diesen beiden benachbarten Kontinenten, die Klimaziele nicht erreicht werden. Das sollten wir auch aus den kritischen künstlerischen Darstellungen lernen - selbst wenn momentan die reaktionären Kräfte der Abschottung in Europa im Erstarken sind. 

Blicke auf und in die Kunst wirken jedenfalls belebend, indem sie uns aus dem Alltag herausreißen. Das gilt für Kunst generell aber insbesondere für Kunst, die gesellschaftliche Zu- und vor allem Missstände aufgreift und sich mit diesen auseinandersetzt. Vor allem wenn dabei ein Schuss Ironie und Selbstkritik dabei ist. Vor allem afrikanische Kunst hat diesbezüglich viel zu bieten. Jedenfalls meldet sich der „Globale Süden“ nicht nur wirtschaftlich und politisch, sondern auch künstlerisch. Dem „Zentrum“ würde es guttun, würde er den Äußerungen der „Peripherie“ mit Offenheit entgegentreten. Letztendlich verliert damit der Begriff Peripherie seine diskriminierende Bedeutung.

Dabei stimme ich mit Carolyn Christov-Bakargiev überein, dass der „Einbruch“ der peripheren Kunstszene nicht dem Universalismus einen Schaden zufügt. Gerade die ökologischen Zusammenhänge sind so überwältigend („Wir müssen uns nur klarmachen, dass der Sauerstoff für Europa und Amerika vor allem aus Brasilien und Afrika kommt“), dass letztendlich gemeinsames Handeln notwendig ist. Die Kunst aus der Peripherie, die neue - oder auch aber alte aber gültige - Perspektiven aufzeigt, kann uns helfen wirklich in universellen Dimensionen zu denken und auch zu handeln.

Im Übrigen gilt das auch für die Architektur. Auch wenn diese immer auch die lokalen - klimatischen und sozialen - Bedingungen verarbeiten muss, können wir alle von Architektur in peripheren Regionen lernen. Das zeigte sich u.a. in der Ausstellung über die pakistanische Architektin Yasmeen Lari, die das Architektur Zentrum Wien organisierte. Yasmeen Lari - und inzwischen viele andere Architekt*innen aus dem „Globalen Süden“ - versuchen mit ihren Entwürfen und Bauten den Herausforderungen der Klimaveränderungen gerecht zu werden. Angelika Fitz und Elke Krasny schreiben diesbezüglich im, die Ausstellung begleitenden, Katalog „Architecture for the Future”: ”Architecture, and the construction sector, cause about half of the greenhouse emissions worldwide, but at the same time more and different architecture is urgently needed to provide homes and essential infrastructure to the unhoused, as increasing numbers are displaced and face the loss of their homes and livelihood because of climate destruction. It is precisely in this most devastating historical moment, which is the global present today, that a different architecture for the future is most urgently needed.”

Inzwischen haben die klimabedingten Umweltkatastrophen vermehrt auch die industrialisierte Welt erreicht. Und plötzlich können bzw. müssen wir auch von Erfahrungen des Globalen Südens lernen und nicht nur umgekehrt. Es ist dies das Gemeinsam-Sein, von dem auch Achille Mbembe spricht, und das wir zur Kenntnis nehmen müssen. Das mag sogar ein erhöhtes Konfliktpotential (siehe die klimabedingten Migrationsbewegungen) mit sich bringen. Aber dem können wir auch durch einen noch so übersteigerten Nationalismus nicht entgehen. Je mehr wir in der industriellen und reicheren Welt die Anliegen, Sorgen und Ideen der Regionen, die einmal die Peripherie darstellten, aufgreifen desto mehr können wir unsere gemeinsame Welt vor Katastrophen schützen. Kunst und Architektur können uns helfen diese gemeinsame Welt zu schaffen.


Dr. Hannes Swoboda, President of the International Institute for Peace (IP), started his career in urban politics in Vienna and was elected member of the European Parliament in 1996. He was Vice President of the Social Democrat Group until 2012 und then President until 2014. He was particularly engaged in foreign, enlargement, and neighborhood policies. Swoboda is also President of the Vienna Institute for International Economics, the Centre of Architecture, the University for Applied Science - Campus Vienna, and the Sir Peter Ustinov Institute