TÜRKEI: EU-KANDIDAT, PARTNER UND GEGNER

Die Türkei macht wieder Schlagzeilen. Präsident Erdoğan ist unermüdlich dabei, der Türkei eine neue regionale Rolle und ein neues politisches System zu geben. Eine Mischung aus traditionellem Nationalismus, aus neu entwickeltem Islamismus und aus wiederentdecktem Großmachtdenken soll die Türkei - und vor allem Präsident Erdoğan - zu einer Stellung verhelfen, an der niemand vorbeikann. Das ist nicht nur an politischen Handlungen erkennbar, sondern wird auch „kulturell“ untermauert. Ein kürzlich präsentiertes Video, zeichnet die Neuinterpretation der Geschichte von der Eroberung Istanbuls bis zur Rückverwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee nach. Von Mehmet, dem Eroberer, bis zu Erdoğan wird eine Linie gezogen, die die säkulare, republikanische Zeit vergessen lässt. Und alle türkischen Staatsbürger - unabhängig davon wo sie leben - sollen sich an dem von Präsident Erdoğan vorgegebenen Leitbild orientieren.

Die Türkei und die Europäische Union

Die Beziehungen zwischen der Türkei und der EU waren immer von Problemen und Schwierigkeiten gekennzeichnet. Auf Seiten der EU bezweifelten viele den europäischen Charakter der Türkei - geographisch, aber auch kulturell. Nur mühsam konnte man sich auf Verhandlungen für einen Beitritt zur EU einigen. Die Türkei selbst hat immer den möglichen Beitritt als ihr prinzipielles und bedingungsloses Recht missverstanden und kaum etwas getan, um die von der EU geforderten Beitrittsbedingungen zu erfüllen.

Als Erdoğan und seine Partei an die Macht kamen, schien sich etwas zu bewegen. Der extreme Nationalismus, der vor allem in der Diskriminierung der Kurden, speziell der politisch aktiven unter ihnen, zum Ausdruck kam, wurde gelockert und einige Schritte der politischen Liberalisierung wurden gesetzt. Erdoğan hat die politische Macht der Militärs reduziert und damit auch Erfolg versprechende Verhandlungen über eine Wiedervereinigung Zyperns ermöglicht.

In dieser Zeit lernte ich Erdoğan kennen. Ich war unter anderem auch Berichterstatter für die Türkei und Mitglied der Türkei Delegation des Europäischen Parlaments. In diesen Funktionen hatte ich in Ankara aber auch in Brüssel mehrmals Gelegenheit Erdoğan zu treffen. Ich empfand ihn nie als einen lockeren und an einem echten Austausch interessierten Gesprächspartner, aber es gab jedenfalls einen Dialog, der Hoffnung machte. Zudem waren einige seiner Minister durchaus am offenen Gespräch interessiert. Unter anderem konnten wir nach schwierigen Verhandlungen auch viele politische Gefangene besuchen und uns für die Verbesserung ihrer Lage einsetzen.

Allerdings warnten uns die Vertreterinnen der CHP, der „republikanischen“ Opposition vor der „versteckten Agenda“ Erdoğans, wobei sie vor allem seine islamistische Ausrichtung meinten. Die VertreterInnen der Zivilgesellschaft waren gespalten, sie waren Erdoğan gegenüber skeptisch aber waren verzweifelt, dass die Opposition es nicht verstand eine glaubwürdige Alternative zu bieten. Und das war auch mein Eindruck. Was Erdoğan jedenfalls gut verstand, ist die traditionelle, muslimische Mittelschicht - vor allem auf dem Land - anzusprechen und für sich zu gewinnen. Und so konnte er seine Macht ausbauen, unter anderem indem er die wirtschaftlichen Chancen dieser religiös orientieren Mittelschicht förderte. Ich hatte nie eine Illusion, dass der Islam durch die stark laizistische Politik von Atatürk und seiner Nachfolger aus den Köpfen breiter Schichten der Bevölkerung vertrieben wurde. Erdoğan nutzte das weidlich aus.

Der neue Erdoğan

War Erdoğan zu Beginn seiner Funktion als Regierungschef - jedenfalls nach außen hin - ein Reformer so änderte sich das nach und nach, vor allem nach dem - noch immer unklaren - Putsch einiger Militärs gegen ihn. Der Putsch gab ihm vor allem auch die Möglichkeit seinen einstigen Unterstützer und späteren Kritiker Fethullah Gülen, zu ächten und seine Anhänger zu verfolgen. Und die Verfolgung erstreckte sich nicht nur auf die Türkei selbst sondern auch auf andere Länder, insbesondere auf dem Balkan wo es Anhänger von Gülen gab oder Erdoğan sie zumindest vermutete. Erdoğan verzichtete auch auf den Dialog mit den Kurden, er setzte lieber auf die extremen Nationalisten, um das Präsidentenamt zu erzielen und zu erhalten. Allein der riesige Präsidentenpalast, den er für sich in Ankara erbauen ließ zeugt von seinem Wunsch, der Türkei  wieder die Rolle einer Großmacht  zu verleihen und damit ihn, als einen der Mächtigen dieser Welt, zu präsentieren.

Wie immer in solchen Fällen, greifen autoritäre Politiker auf das „ihrem“ Land zugefügte Unrecht zurück, um politische Aktionen zu rechtfertigen. Im Falle der Türkei ist es der nach dem ersten Weltkrieg geschlossene Vertrag von Sèvres, der die Zerstückelung der Türkei vorsah. Das war sicher ein besonders ungerechter und von den Kolonialmächten der damaligen Zeit bewusst zu ihren Gunsten gestalteter Vertrag. Der neue starke Mann der Türkei und spätere Präsident Atatürk hat diesen Vertrag nicht anerkannt und durch seinen militärischen Widerstand wurde 1923 ein neuer Friedensvertrag, der Vertrag von Lausanne unterzeichnet. Aber der nach nur zwei Jahren wieder annullierte Vertrag von Sèvres dient noch immer dazu, die Ungerechtigkeiten des „Westens“ gegenüber der Türkei anzuprangern. Es war der Jahrestag der Unterzeichnung des Vertrags von Lausanne, der Sèvres annullierte, an dem Erdoğan die Umwandlung der Hagia Sophia in eine Moschee vollzog.

2023 werden es also 100 Jahre her sein, dass die neue Türkei gegründet wurde - in Nachfolge des Osmanischen Reichs. Ich erinnere mich noch gut an mehrere Gespräche mit VertreterInnen der Zivilgesellschaft in Ankara und Istanbul, in denen immer wieder die Hoffnung geäußert wurde, dass 100 Jahre nach Gründung der Türkei als säkulare Republik, diese der EU als Mitglied angehören würde.  Nun, das wird sicher nicht der Fall sein und Erdoğan hat auch anderes im Kopf. Er möchte seiner Bevölkerung und der Welt 2023 eine starke, selbstbewusste und jedenfalls regional einflussreiche Türkei präsentieren. Und nicht zuletzt eine Türkei, die selbst reich an Energieressourcen, vor allem Gas ist und darüber hinaus eine Energiedrehscheibe darstellt.

Konflikt im östlichen Mittelmeer

Zwischen den beiden NATO-Staaten, Griechenland und Türkei gab es immer wieder Spannungen.  Griechenland war lange Zeit von der Türkei besetzt - insbesondere der Norden um Saloniki, die ja auch die Geburtsstadt des Republikgründers Atatürk ist. Viele Griechen mussten nach dem ersten Weltkrieg die Türkei verlassen was natürlich nach wie vor zu Spannungen führt aber auch zu neu aufgenommenen Beziehungen der Kinder der Vertriebenen zur Heimat ihrer Eltern. Vor allem aber die Spannungen zwischen der griechischen und der türkischen Bevölkerung auf Zypern haben oft die Beziehungen zwischen Griechenland und der Türkei gestört und damit auch das Verhältnis der EU zur Türkei belastet. Dabei hat Griechenland immer wieder drauf bestanden, dass die EU sich voll und ganz auf die griechische Seite schlägt. So auch im aktuellen Energiestreit.

Vor allem die Bohrungen nach Erdgas vor Zypern, die von der einzig international anerkannten - griechischen - Regierung Zyperns für sich in Anspruch genommen werden, haben die Türkei erzürnt. Der türkische und von türkischen Truppen besetzte Teil der Insel kann von dieser Energieausbeutung nicht profitieren. Übereinkommen der zypriotischen Regierung mit Israel und Ägypten - zwei Gegner der Politik Erdoğan - haben die Türkei zu Gegenmaßnahmen getrieben. So kam es zu einer grotesken „Aufteilung“ des östlichen Mittelmeeres zwischen der Türkei und Libyen, die Erdgasexplorationen durch Griechenland und Zypern in diesem Gebiet verhindern sollen. Durch diese Vereinbarung erhöhten sich die Festlandsockel der Türkei und von Libyen, zum Teil unter Einschluss von griechischen Inseln. Diese so definierte gemeinsame Wirtschaftszone zwischen Libyen und der Türkei überlappt sich mit der zwischen Griechenland und Ägypten vereinbarten ausschließlichen Wirtschaftszone. Der Konflikt ist also vorprogrammiert. 

Anderseits stellt die Türkei das Recht Griechenlands, auch um kleine Inseln nahe der türkischen Küste ausgedehnte „ausschließliche Wirtschaftszonen“ festzulegen, in Frage. Und in der Tat gibt es diesbezüglich rechtlich begründbare Auffassungsunterschiede. Die Genfer Seerechtskonventionen, denen die Türkei nie beigetreten ist, sehen solche Zonen vor, aber es sind auch Aspekte der Fairness und der Billigkeit so zu berücksichtigen, dass den Interessen aller Anrainer Rechnung getragen wird. Und gemäß diesen Prinzipen hätte die Türkei auch einige Ansprüche auf ausschließliche Wirtschaftszonen.

Kaum Kompromissbereitschaft

Die EU ist so wie in der Zypernfrage generell in einer Zwickmühle. Sie möchte vermitteln und einen vielleicht sogar militärisch ausgetragenen Streit unbedingt vermeiden. Aber sie ist natürlich Partei, weil sie die beiden Mitgliedsstaaten Griechenland und Zypern unterstützen muss. Ich selbst habe große Sympathien für die Menschen in Griechenland und im griechischen Teil Zyperns und auch für viele ihrer politischen VertreterInnen, aber ich war  immer der Meinung, dass diese beiden Länder nicht genügend an einem Kompromiss zur Lösung des Zypernproblems und auch in der Energiefrage interessiert waren. Zudem haben sie immer wieder unangemessenen Druck auf die EU-Kommission und auf die anderen Mitgliedsländer ausgeübt, ihre eher kompromisslose Position zu unterstützen. Im Europäischen Parlament lehnte die Mehrheit sogar nicht stimmberechtigte Beobachter aus dem türkischen Teil Zyperns ab, obwohl die ganze Insel - nach europäischer Rechtsauffassung - zur EU gehört.


Ich muss aber zugeben, dass die oft starre und mindestens ebenso kompromisslose Haltung der Türkei und jetzt auch die expansionistische Politik durch Präsident Erdoğan, es den griechischen und griechisch- zypriotischen VertreterInnen leicht gemacht haben, ihre europäischen KollegInnen von ihrer Position zu überzeugen. Leider haben alle Beteiligten an diesem Konflikt es verabsäumt, das Vorhandensein von Energiereserven dazu zu verwenden einvernehmliche regionale Lösungen aller Konflikte anzustreben. Der gemeinsame Reichtum sollte es doch ermöglichen friedliche Lösungen zu erzielen. Militärische Aktionen sind der dümmste Weg an die „Lösung“ von Konflikten heranzugehen.  

Sanktionen, militärische Aktionen oder Streitschlichtung

Mehrerer EU-Regierungen, so auch Österreich, treten für eine harte Linie gegenüber der Türkei ein. Dazu gehören auch Sanktionen, die wenn es nicht vorher zu einem Übereinkommen mit der Türkei kommt, Ende September beschlossen werden sollen. Deutschland, das den derzeitigen Ratsvorsitz innehat versucht zu vermitteln, stößt dabei aber bei mehreren Ländern der EU und selbst im eigenen Land auf Widerstand. So meinte unlängst der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Außenpolitik und frühere Airbus - Konzernchef Tom Enders in der NZZ : „Die deutsche Regierung hat immer noch  nicht begriffen, dass Appeasement-Politik gegenüber dem türkischen Präsidenten nicht funktioniert...Es ist das Ergebnis jahrelanger  Autosuggestion der politischen Eliten, dass Machtabstinenz und Multilateralismus  die einzige verantwortbare Außenpolitik für Deutschland sein können.“ Letztendlich plädiert er für die Androhung einer militärischen Intervention. Ich meine hingegen, dass Tom Enders und ähnlich denkende Kommentatoren nicht den Unterschied zwischen Appeasement einerseits und Vermittlung sowie Streitschlichtung anderseits verstehen.

Ich halte es für gefährlich, wenn von allen Seiten mit militärischen Einsätzen gedroht wird. Im östlichen Mittelmeer, nahe den schon bestehenden Konfliktherden einen neue Konflikt anzuheizen, ist äußerst risikoreich und unverantwortlich. Zu hoffen bleibt, dass Kompromisse und Auswege gefunden werden können. Dabei sollten internationale Schlichtungsverfahren die umstrittene Frage der ausschließlichen Wirtschaftszonen und der Festlegung von Festlandsockeln klären. Dazu sind solche Institutionen und Verfahren geschaffen worden.

P:S: Österreich und die Türkei

Österreich hat schon längere Zeit hindurch ein gespanntes Verhältnis zur Türkei und umgekehrt. Vorbei sind die Zeiten als im ersten Weltkrieg unter anderem der österreichisch - ungarische Monarch und der osmanische Sultan gemeinsam zum Djihad gegen die Westmächte aufgerufen haben. Das kritische bis ablehnende Verhalten gegenüber der Türkei betrifft nicht nur die Regierungen, sondern auch die Mehrheit der österreichischen Bevölkerung. Vorurteile gegenüber den „Türken“ und die auch nach Österreich gebrachten Differenzen zwischen Kurden aus der Türkei und nationalistisch eingestellte Türken, haben das Ihre dazu beigetragen. Mit dem Erstarken von Erdoğan ‘s Nationalismus haben sich die Konflikte verstärkt und auch jüngst zu nicht tolerierbaren Zusammenstößen geführt.


Ich war immer dafür, einerseits „normale“ Beziehungen zur Türkei zu pflegen und anderseits im Inland mehr zur Integration der „Türken“ zu unternehmen. Was das erstere betrifft habe ich mich gegen die Vehemenz mit der Österreichs Regierungen sich gegen die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei wehrten, ausgesprochen. Erdoğan selbst hat ja diese Verhandlungen ad absurdum geführt. Es brauchte da nicht innenpolitisch motivierte Sticheleien gegen die Türkei. Und was die Situation im Inland betrifft, so haben wir nicht genügend für die Integration der MigrantInnen getan. Auf diese Weise hatte und hat Erdoğan ein leichtes Spiel. Je weniger sich die MigrantInnen in Österreich respektiert und zu Hause fühlen, desto mehr werden sie auf die nationalistischen Sprüche von Erdoğan hören. Aber selbstverständlich kann und muss Österreich von allen hier wohnenden Menschen - unabhängig von ihrer Herkunft - die Einhaltung von Österreichs Gesetzen verlangen. Da kann es keine Kompromisse geben.

Picture: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Recep_Tayyip_Erdogan_(2020-01-19)_02.jpg


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Dr. Hannes Swoboda, President of the International Institute for Peace (IP), started his career in urban politics in Vienna and was elected member of the European Parliament in 1996. He was Vice President of the Social Democrat Group until 2012 und then President until 2014. He was particularly engaged in foreign, enlargement, and neighborhood policies. Swoboda is also President of the Vienna Institute for International Economics, the Centre of Architecture, the University for Applied Science - Campus Vienna, and the Sir Peter Ustinov Institute.