ZURÜCK ZUM GEIST VON 1975?

Wie mit Russland leben

Am 1. August 1975, also vor 50 Jahren wurde in Helsinki ein Abkommen geschlossen, das eine Zeitenwende in Europa begründende, die sogenannten Helsinki Schlussakte. Den Begriff Zeitenwende hatte der ehemalige deutsche Bundeskanzler in die geo-politische Debatte nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine am 24.2.2022 eingebracht. Er sollte anzeigen, dass der Krieg nach Europa zurückgekehrt ist und Europa sich wieder auf verstärkte Rüstungsausgaben einstellen muss. 1975 war es umgekehrt. Die davor und parallel zu den Vorbereitungen zur Konferenz von Helsinki geführten Gespräche zwischen Ost und West, insbesondere zwischen den Amerikanern und den „Russen“ (der Sowjetunion) führten zur Abrüstung und der Verständigung über sicherheitspolitische Fragen.

Aber worin bestand die Verständigung konkret? Im Wesentlichen kamen die Vertreter der östlichen und westlichen Länder überein, dass die vor allem in Jalta nach dem 2. Weltkrieg vereinbarten Grenzen unantastbar bleiben sollten. Sie wurden einvernehmlich eingefroren. Dies war vor allem das Interesse des kommunistischen, sprich russischen, Machtbereichs. Dafür wurde den kommunistischen Führern ein Zugeständnis abgerungen. Sie sollten ihren BürgerInnen und Bürgern Meinungsfreiheit und andere grundsätzliche Menschenrechte gewähren. 

Die Konsequenzen von Helsinki 

In den kommunistischen Staaten des europäischen Ostens wurden diese Vereinbarungen unterschiedlich bewertet und ausgelegt. Nicht nur zwischen den staatlichen Behörden und der Zivilgesellschaft. Auch innerhalb der Zivilgesellschaft kam es zu Meinungsverschiedenheiten. Einige sahen im Dokument von Helsinki einen Verrat des Westens. Für sie war die Anerkennung der Macht der Kommunisten und vor allem der kommunistischen Herrscher im Kreml eine große Enttäuschung. (Milan Simecka, Letters from Prison)

Andere wieder pochten gegenüber den Machthabern in ihren Ländern auf die Einhaltung der in den Helsinkier Schlussakten gegeben Menschenrechtsversprechen. Sie verlangten, dass die Funktionäre den schönen Worten Taten folgen lassen sollten. Diese Gruppe gewann die Oberhand und gemeinsam mit den ungelösten wirtschaftlichen Problemen führten diese zivilgesellschaftlichen Bewegungen in den Jahren 1989 bis 1992 zum Zerfall des kommunistischen Ostblocks und auch der Sowjetunion selbst. (siehe die Rede von Václav Havel anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1989) 

Im Laufe der nächsten Jahre kam es zu einer starken Westorientierung der meisten „östlichen“ Länder. Daraus erfolgte eine Beitrittswelle zur NATO und zur Europäischen Union. Russland selbst war gespalten zwischen dem Wunsch zum Westen zu gehören, aber gleichzeitig als großes Land eine Sonderstellung zu haben. Andere Kräfte innerhalb Russlands wieder wollten sich nicht den westlichen Vorstellungen fügen. Sie wollten sich stärker nach Asien orientieren. 

Wie Russland integrieren?

Im Westen war man auch unsicher, ob und wie man Russland integrieren soll. Einige Länder, die besonders unter der russischen Herrschaft gelitten haben, wie die Länder des Baltikums aber auch Polen, wollten nicht neuerlich in einer „Gemeinschaft“ mit Russland leben. Sie suchten in der EU und vor allem in der NATO Zuflucht vor Russland. Jedenfalls wurden Ideen eines gemeinsamen „Haus Europa“ nicht mit konkreten Inhalten gefüllt - von keiner Seite. 

Es war dann vor allem der neue Machthaber in Russland, Wladimir Putin, der die Chancen nützte - durch selbst geschaffene oder geschürte - Konflikte an den äußeren Grenzen (zu Georgien, Moldawien und Ukraine) die Neuordnung von Beginn der Neunziger Jahre in Frage zu stellen. Auch die klare Anerkennung der Grenzen, wie sie Russland im Budapester Memorandum (1994) und in der Charta von Paris (1990) ausgesprochen hat, wurden de facto außer Kraft gesetzt. Der umfassende Krieg gegen die Ukraine war dann der konsequente Todesstoß gegen den Frieden auf europäischen Boden. 

Neue Bündnisse - neue Rüstung

Hinzu kommt, dass China, und noch mehr Nord-Korea und auch der Iran Russland in diesem Krieg klar unterstützen. Niemand kann heute mit Sicherheit sagen, wie und wie weit sich diese Allianz entwickeln wird. (Siehe dazu: Peter Frankopan „The Dragon and the Bear“ Financial Times, 5./6. Juli 2025) Jedenfalls hat sich die gesamte geo-politische und militärische Lage seit 1975 radikal verändert. Nord-Korea ist ein nuklear gerüsteter Staat mit einer unberechenbaren Führung. China wieder hat massiv aufgerüstet, betreibt eine expansive Politik in den umgebenden Meeren und hat einen Konflikt mit Taiwan. Ein gemeinsamer bzw. paralleler Vorstoß gegen Taiwan - durch China - und seitens Russlands gegen baltische Staaten kann nicht mehr ausgeschlossen werden. (siehe dazu: „Die schönen Tage von Jurmula sind vorbei“ NZZ 24.5.2025)  

Und Amerika? Nun Donald Trump verbreitet eher Unsicherheit, als dass es einen berechenbaren Partner für Europa darstellt. Das westliche Bündnis befindet sich in einer Krise. 

In einer solchen Situation der europäischen und globalen Unsicherheit ist zu verstehen, dass Europa bzw. die Europäischen NATO-Länder reagieren. Es geht darum, die seit 1975 zurückgefahrenen Rüstungsausgaben wieder zu erhöhen und nachzurüsten. Aber zu wenig wird überlegt, wo die militärischen Schwächen Europas liegen. Kaum wird nachgedacht inwieweit man durch militärische Kooperation aber auch durch Zusammenarbeit der Rüstungsproduzenten Kosten sparen kann. Man müsste auch viel mehr mit guten Argumenten die Bevölkerung überzeugen, dass es um die Bewahrung des Friedens geht und nicht um eine unüberlegte Militarisierung Europas. Überdies geht es um die Verteidigung einer wirtschaftlichen, sozialen aber auch Gemeinschaft von Werten, die heute unter Druck ist. Es geht nicht nur um die territoriale Verteidigung.

Militärische Rüstung muss Teil einer umfassenden Friedenspolitik sein. So wie die russische Führung unter Putin sich als Verteidiger eines auf konservativen, rückwärtsgewandten und autokratisch geführten Systems versteht, muss die politische Führung in Europa sich im Gegensatz dazu, auf die Verteidigung eines demokratischen und die Menschenrechte beachtenden Systems bestmöglich vorbereiten. Diese Abgrenzung zur Ideologie und zur aggressiven Politik eines Wladimir Putins sollte aber keine Feindschaft gegen „die Russen“ bzw. gegenüber der russischen Kultur mit sich bringen. Auch in Zeiten des Krieges muss man sich auf den Frieden und die friedliche Koexistenz unterschiedlicher Systeme vorbereiten. 

So stellt Antoine Mares in seinem Beitrag „Das Münchner Abkommen“ (Lettre International, Sommer 2025) fest, dass es notwendig ist „die demokratischen Prinzipien mit einer gewissen Standhaftigkeit zu versöhnen…Die Herausforderung ist beträchtlich, aber wir verfügen ja über die Lehren von München.“ 1938 haben die westlichen Staaten - Frankreich und Großbritannien – ein Abkommen mit Hitler geschlossen, in der vergeblichen Hoffnung ihn von weiteren Aggressionen abzuhalten. 

Die Verteidigung der eigenen Interessen mit einer klaren Haltung gegenüber Aggressionen und Kriegsverbrechen muss dennoch mit einer Dialogbereitschaft einhergehen - auch wenn diese auf russischer Seite derzeit nicht erkennbar ist. Wir müssen einen Weg finden, wie wir mit Russland in Zukunft leben - ohne Unterwerfung aber mit der Bereitschaft, ein Minimum an Gemeinsamkeit zu entwickeln. Das sollten vor allem auch übergeordnete Fragen wie die Sicherheit und die Umwelt betreffen.

Dr. Hannes Swoboda, President of the International Institute for Peace (IP), started his career in urban politics in Vienna and was elected member of the European Parliament in 1996. He was Vice President of the Social Democrat Group until 2012 und then President until 2014. He was particularly engaged in foreign, enlargement, and neighborhood policies. Swoboda is also President of the Vienna Institute for International Economics, the Centre of Architecture, the University for Applied Science - Campus Vienna, and the Sir Peter Ustinov Institute.