FRIEDENSPOLITIK IN ZEITEN DES KRIEGES

Anmerkungen nach einer Tagung zur EU-Verteidigungspolitik in Paris Teil 1

Es herrscht Krieg in Europa, aber auch - wieder einmal - im Nahen Osten und auch darüber hinaus ist die Welt nicht gerade friedlich. Kann man in dieser Situation noch eine Friedenspolitik propagieren und worin besteht eine solche angesichts der Kriege in Europa selbst und im Nahen Osten? Dann kommen noch diverse gefährliche Entwicklungen, nicht zuletzt in der Sahelzone, hinzu. 

Die Frage nach Sinn und Möglichkeit einer Friedenspolitik stellte ich mir, nicht zuletzt, nach meinem Besuch des Pariser Forums für Verteidigung und Strategie - Paris Defence and Strategy Forum. Jedenfalls haben alle drei erwähnten Konfliktzonen, die am Forum in Paris ausführlich behandelt wurden, direkte Auswirkungen auf Europa, auch wenn der Angriff Russlands auf die Ukraine sicher die unmittelbarste und gefährlichste Herausforderung für die Europäische Union und ihre Mitgliedstaten darstellt.

Russlands Krieg gegen die Ukraine

Viel ist immer wieder - so auch am Pariser Forum - vom Angriff auf die Ukraine als „game changer“ die Rede. Und das stimmt sicher insofern, als Putin seinen Angriffskrieg mit der Drohung des Einsatzes von Atomwaffen führt. Die Besetzung eines fremden Landes und der Versuch es zu zerstören ist schon als solches eine ernst zu nehmende Gefahr für Europa und den Westen. Aber, dass das noch dazu unter der Androhung des Einsatzes von Nuklearwaffen geschieht, sollte der Westen die Ukraine mit Erfolg unterstützen, ist sicher eine bisher nicht dagewesene Infragestellung der nach dem 2. Weltkrieg etablierten Friedensordnung. 

Ob nun, wie der US-amerikanische Politikwissenschaftler Eugene Kogan bei der Tagung in Paris behauptet hat, Putin nicht ertragen kann, dass nur die Amerikaner am Ende des zweiten Weltkriegs die nuklearen Waffen angewendet haben oder andere Gründe maßgebend sind, das Verhalten Russlands kann im Hinblick auf mehrere Atommächte Schule machen. Und wenn man sieht wie die Atommacht China Russland zumindest den Rücken freihält, die Atommacht Nord Korea mit Russland militärisch zusammen arbeitet und die Fast-Atommacht Iran ein enger Verbündeter Russland ist, dann kann man die Gefahr abschätzen, die ein Sieg Russlands aufgrund seiner nuklearen Drohungen geopolitisch bedeuten kann. 

Unabhängig davon votieren vor allem die östlichen und nördlichen Nachbarn Russlands für eine Verstärkung der Verteidigung der Ukraine. Russland darf nicht gewinnen, sonst wird es weiter gehen mit seinen Expansionsbestrebungen. Sicher kann man dies nicht beweisen, aber das aggressive Verhalten Russlands spricht eher für diese Absicht. Jedenfalls kann eine solche auch räumlich fortgesetzte Aggression nicht ausgeschlossen werden. 

Überdies würde eine erfolgreiche russische Aggression unter Verwendung der nuklearen Drohkulisse bei den Nuklearmächten mehrere Nachahmer finden, die dann ebenfalls gegen Staaten ohne Atomwaffen ähnlich vorgehen würden. Einigkeit besteht bei der überwältigenden Mehrheit der europäischen Regierungschefs darin, die Ukraine mit Aufklärung, Waffen und Munition zu unterstützen. Dennoch fällt die Unterstützung der Ukraine hinter den von ihr geforderten Lieferungen zurück. So kann z.B. die europäische Produktion von Munition nicht in dem Ausmaß gesteigert werden, wie das die Ukraine benötigt. Zusätzlich gibt es immer auch Diskussionen über die Lieferung einzelner Waffengattungen wie zum Beispiel von Taurus Marschflugkörpern durch Deutschland. Aber die größte Gefahr für eine ausreichende militärische Unterstützung für die Ukraine geht von einem Wahlsieg von Donald Trump aus. 

Aber wie weit soll die Unterstützung überhaupt gehen? Die Tagung in der französischen Militärakademie in Paris fand wenige Tage nach der Erklärung von Präsident Macron statt, in der er auch eine Teilnahme von - französischen - Soldaten ins Spiel gebracht hat. Aber damit würde sicherlich der Sprung von einer Unterstützung zu einer direkten Teilnahme am Krieg gemacht werden. Vielleicht sind das nur leere Versprechungen, aber wie Kommentare in französischen Medien es ausdrücken, braucht die Ukraine „alles aber nur keine leeren Versprechungen“.  

Der immer wieder - auch von Emmanuel Macron - vorgebrachte Hinweis auf München 1938 und darauf, dass Hitler nicht durch Verhandlungen gestoppt werden konnte, kann auch als Hinweis darauf verstanden werden, dass nur ein direktes Eingreifen in kriegerische Auseinandersetzung durch westliche - europäische und amerikanische - Truppen Russland besiegen kann. Das führt manche dazu zu glauben, nur eine direkte Teilnahme am Krieg kann Russland in die Knie zwingen. Und einige dürften sogar dafür plädieren Russland direkt anzugreifen bevor Russland gegen ein Mitglied der EU bzw. der NATO vorgeht. 

Aber genau da kommt die nukleare Drohung - man kann natürlich auch von Erpressung sprechen - ins Spiel. Hitler hatte keine solche Waffen in seinem Arsenal. Und die „Wunderwaffen“, die in Nazi-Deutschland entwickelt wurden, kamen zu spät bzw. funktionierten nicht richtig. Diese Macht in den Händen Putins darf den Westen nicht ohnmächtig machen, aber kluge und rationale Überlegungen sind notwendig, will man die Welt oder zumindest Europa nicht in einen Atomkrieg führen. Bei allem Verständnis für die Ängste mancher Anrainerstaaten von Russland darf es keinen emotionalen bzw. blinden Aktionismus geben. 

Genau aus dem Willen heraus zu verhindern, dass der Krieg in eine atomare Katastrophe mündet, muss Europa aufrüsten. Die vom deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz verkündete verteidigungspolitische Zeitenwende ist angesichts der russischen Politikwende sicher notwendig. Dabei sollte man aber endlich von der Fixierung auf bloße Zahlen für die Verteidigung also auf mindestens(!) 2% des BIP loskommen. Europa insgesamt gibt nicht im Vergleich zu Russland und China zu wenig für die Verteidigung aus, allerdings extrem ineffizient - sowohl im Vergleich zu diesen Ländern als auch zu den USA. 

Die extreme Zersplitterung bei den angekauften Waffengattungen, der Mangel an Spezialisierung und an Arbeitsteilung sowie bei der Interoperabilität schwächt die europäische Verteidigungskapazität enorm. Diese Schwächen sind sicherlich nicht von heute auf morgen aufzuholen. Insofern kann man Verständnis für eine Steigerung von Ausgaben für die Verteidigung haben, aber nur wenn sie vom festen Willen begleitet wird, Synergieeffekte durch eine starke europäische Zusammenarbeit herzustellen. 

Zu viel an Zeit und Möglichkeiten, die europäische Verteidigung effizienter zu organisieren, wurden versäumt, aber angesichts der neuen Bedrohungen muss Europa in diese Richtung gehen, will man nicht mutwillig viele Ressourcen verschwenden. Die nationale Aufrüstung muss von einer europäischen Umrüstung begleitet werden. Genau dafür plädierte auch in Paris der Vorsitzende des europäischen Militärkomitees, der österreichischen General Brieger. 

Und noch etwas ist entscheidend. Sogar die konservative Neue Zürcher Zeitung hat darauf hingewiesen, dass die zusätzlichen Militärausgaben auch sozial verträglich aufgebracht werden müssen. Wie nach dem Zweiten Weltkrieg muss es möglich sein den Sozialstaat und die Verteidigung zu stärken nach dem Motto: „Not guns or butter, but guns and butter“. Das ist auch deshalb wichtig zu unterstreichen, da einige politische Kräfte schon gefordert haben, die Ausgaben fürs Soziale zurückzufahren, um Mittel für die Verteidigung zu bekommen. 

Es geht also nicht darum wie einige - so auch der ehemalige NATO Generalsekretär Anders Fogh Rassmussen - gedankenlos argumentieren, dass Europa eine Kriegswirtschaft einführen muss. Kriegswirtschaft würde Zwang für Unternehmer und Arbeitnehmer bedeuten und das Gefühl vieler Europäer, dass sie für die Ukrainer unzumutbare Opfer bringen würden, noch verstärken. Sie würde unsere Gesellschaften spalten und das hilft keineswegs der Unterstützung der Ukraine - im Gegenteil.  

Anderseits ist es durchaus sinnvoll, dass sich Europa auf mögliche Konflikte besser vorbereitet. Da geht es um gemeinsame Einschätzung von Risken und die Erarbeitung von gemeinsamen strategischen Kulturen. Es braucht auch einen gemeinsamen Markt für die Rüstungsgüter, um die Abhängigkeiten von US-Produzenten zu verringern. Darüber hinaus sollte auch das, was manche als „Militärisches Schengen“ bezeichnen, hergestellt werden. Damit würde es zu schnelleren Genehmigungen von grenzüberschreitenden Truppentransporten kommen. 

Aber was die Wirtschaft betrifft, so geht es vor allem auch um eine europäische Wirtschaftspolitik, die sich stärker an Sicherheitsinteressen orientiert. Es braucht dabei Korrekturen des Marktes, der allein nicht für Sicherheit der Versorgung mit wichtigen Gütern und Leistungen sorgt. So meinen der Ökonom Gabriel Felbermayr und der Jurist Christoph Herrmann in einem Beitrag in der FAZ Europa „soll eine Brücke schlagen zwischen der Unterstützung des Multilateralismus und offener Märkte einerseits und einer stärkeren Verteidigung gleicher Wettbewerbsregeln und der europäischen Wettbewerbsfähigkeit anderseits.“  

Dabei sind einseitige Abhängigkeiten - vor allem von China - abzubauen, Lieferbeziehungen zu diversifizieren und eigene Stärken aufzubauen. Trotzdem „heißt das nicht, dass man auf den Aufbau militärischer Abwehr- und Sanktionsfähigkeiten sowie eine größere Autonomie in ausgewählten kritischen Sektoren verzichten kann.“ Es geht also nicht um eine Kriegswirtschaft, sondern um eine Wirtschafts- und vor allem Handelspolitik, die verstärkt Sicherheitsaspekte berücksichtigt.

Und der Friede?

Bedeutet Aufrüstung das Ende des Europa-Friedensprojekts bzw. der europäischen Friedenspolitik? Keineswegs. Wenn Europa das Ziel verfolgt, die russische Aggression zurückzuweisen, weitere Aggressionen Russlands in Europa zu verhindern und gleichzeitig den Einsatz von Nuklearwaffen zu vermeiden dann geht kein Weg an der - jedenfalls konventionellen - Auf/Umrüstung vorbei. Das ist keineswegs erfreulich, aber unvermeidlich.

Bedeutet eine solche Politik, dass keine Friedensbemühungen versucht werden sollten? Nein, auch das ist keine legitime und logische Schlussfolgerung. Sicher ist es schwierig, angesichts der brutalen russischen Aggression nach Außen und Innen, mit Russland einen Dialog zu führen. Je stärker der Westen sich militärisch rüstet und auf löchere kriegerische Auseinandersetzungen vorbereitet, desto eher wird Russland zum Gespräch bereit sein. Entscheidend ist die Frage, was der Westen bzw. Europa Russland anbieten kann, ohne die Voraussetzungen für einen nächsten Angriff zu liefern. 

Welchen Versprechungen Russlands kann man trauen ohne starke Sicherheitsgarantien für die Ukraine, Moldau und eventuell Georgien - innerhalb oder außerhalb der NATO? Kann die OSCE oder eine ähnliche Organisation erneuert und verstärkt und eine starke Europäische Sicherheitsagentur werden, die zuerst einen Waffenstillstand und dann eine Friedensregelung überwacht.

Ohne Zweifel wird Russland ein großer Unsicherheitsfaktor bleiben. Und immer wieder wird - so war das auch bei der Pariser Tagung - die Frage gestellt, ob es Putin ist der den Krieg führt und den es zu bekämpfen gilt oder ob es um einen Krieg gegen das russische Volk geht. Eine Teilnehmerin aus Litauen meinte in einer Diskussion zur „Zeitenwende“ kategorisch, das russische Volk führt den Krieg und nicht nur Putin. Diese Einstellung allerdings kann - auch wenn sie einen Kern Wahrheit beinhaltet - zu einer radikal unversöhnlichen Haltung führen. Sie eröffnet keine Perspektive - wenn auch langfristig - mit Russland versöhnlich zusammen zu leben. Und sie erlaubt es nicht zu überlegen, wie man Sicherheitsstrukturen - jenseits der Aufrüstung - aufbauen kann, um zumindest ein friedliches Nebeneinander zu ermöglichen. 

Man darf ja nicht vergessen, dass die NATO-Erweiterung im Norden zwar einerseits für Schweden und Finnland mehr Sicherheit bringen kann aber anderseits entlang der finnisch-russischen Grenze und in der Ostsee bzw. dem Baltischen Meer mehr Konfliktpotential schaffen kann. Russland hat es durch seine Aggression geschafft, dass die NATO direkt und indirekt unmittelbar an seine Grenze gekommen ist. Die Ostsee wurde zwar kein NATO-Meer, wie manche behaupten, aber ein stärker „gemeinsames“ Meer von NATO und Russland. Da kann es beabsichtige aber auch unbeabsichtigte Konflikte geben und dafür braucht es Mechanismen und Organisationen, die zu einer Konfliktvermeidung bzw. zu einer friedlichen Konfliktlösung beitragen können.

Aber da der Krieg ja nicht nur einer zwischen Russland und der Ukraine ist, sondern darüber hinaus eine Auseinandersetzung über die gesamte europäische und globale Ordnung, muss schon jetzt über den aktuellen Krieg hinausgedacht werden. Und weil der Einsatz von atomaren Waffen sich von undenkbar in Richtung denkbarer gewandelt hat, ist besondere Vorsicht an den Tag zu legen. Gerade auch weil viele Abrüstungsabkommen aufgekündigt wurden bzw. nicht mehr wirksam sind, muss daran gearbeitet werden, wie man trotzdem ein Minimum an gemeinsamen Regelungen finden kann. Vereinbarungen, die den großen und vor allem nuklearen Krieg vermeiden können und die vor allem die Weiterverbreitung von Nuklearwaffen verhindert.  

All das bedeutet der Frage nachzugehen, wie es zu neuen, starken und überwachten Rüstungskontrollen, insbesondere hinsichtlich der nuklearen Waffen, kommen kann. Auch in Zeiten des Krieges darf man nicht jeden Kontakt über die Frontlinien abbrechen. Man muss sich bewusst sein, dass das nicht leicht zu bewerkstelligen ist. Möglichkeiten müssen im Auge behalten werden. Da darf es keine Denkverbote geben. Primär geht es allerdings darum, unbeabsichtigte Zwischenfälle zu vermeiden, die zu Kettenreaktionen führen, die nicht mehr gestoppt werden können. Es gab ja auch während des Ukraine Krieges solche Kontakte zwischen den USA und Russland und die sollte es auch zwischen der Europäischen Union und Russland geben. 

All das muss selbstverständlich parallel zu vermehrten Verteidigungsanstrengungen erfolgen. Über Friedensmöglichkeiten nachzudenken und sie auszuloten darf nicht aus Defätismus heraus geschehen, sondern mit militärischer Stärke im Rücken. Denn wie immer der Krieg zu Ende geht - und das hoffentlich bald -, eine stärkere europäische Verteidigungsbereitschaft innerhalb der NATO und wo sinnvoll und möglich auch außerhalb, ist für den Frieden in den nächsten Jahren oder sogar Jahrzehnten absolut notwendig. Die von Kanzler Scholz angekündigte Zeitenwende darf keineswegs das Ende von Friedensbemühungen bedeuten. Sie sollte sogar dazu genutzt werden - auch wenn das heute noch utopisch klingt - über eine zukünftige Friedensordnung in Europa und in seiner Nachbarschaft nachzudenken.

Natürlich hängt der Frieden in Europa nicht nur von den Entwicklungen in Europa selbst ab. So muss sich der Westen überlegen, wieviel globale Konflikte er  eingehen möchte bzw. welches Verhältnis er zu anderen globalen Akteuren, insbesondere zu China entwickeln möchte. Westliche Hybris ist angesichts globaler Machtverschiebungen sicher nicht am Platz.

In diesem Sinn verstehe ich auch den jüngsten Leitartikel von Eric Gujer in der NZZ wenn er hinsichtlich der verschiedenen Wertvorstellungen vom Westen und von Russland und China schreibt: „Der Westen darf nicht im Hochgefühl moralischer Überlegenheit einen Kreuzzug für universelle Werte führen. China darf bei seinen Provokationen den Bogen nicht überspannen. Gelingt es, den zentralen amerikanisch-chinesischen Gegensatz einzuhegen, schrumpft der Popanz Putin auf Normalmaß. Der Kalte Krieg ist eine Drohung, weil die Welt stets am Rande einer Katastrophe balancierte. Aber er ist auch ein Vorbild für gelungenes Konfliktmanagement.“

Und auch Österreich muss sich in dieser neuen Welt zurechtfinden und seine Position klären. Angesichts des fest verwurzelten Glaubens an die Neutralität macht es wenig Sinn prinzipiell über Neutralität bzw. ihr Ende zu reden. Es geht vielmehr darum, wie wir als neutraler Staat zur europäischen Solidarität beitragen können. Und es geht darum, wie wir unsere Verteidigungskapazität so gestalten, dass sie im Falle des Falles in Zusammenarbeit und Abstimmung mit den europäischen Partnern eingesetzt werden kann. Da ist in den letzten Jahren bereits einiges geschehen und noch mehr muss qualitativ und quantitativ gemacht werden. 

Ein zweiter Teil wird sich mit den Krisenregionen in Europas Nachbarschaft beschäftigen. 


Dr. Hannes Swoboda, President of the International Institute for Peace (IIP), started his career in urban politics in Vienna and was elected member of the European Parliament in 1996. He was Vice President of the Social Democrat Group until 2012 and then President until 2014. He was particularly engaged in foreign, enlargement, and neighborhood policies. Swoboda is also President of the Vienna Institute for International Economics, the Centre of Architecture, the University for Applied Science - Campus Vienna, and the Sir Peter Ustinov Institute.