Zum Ableben von Henry Kissinger: Weitsichtiger strategischer Denker mit dunklen kurzsichtigen Flecken

Erschien in der Jänner 2024 Ausgabe von INTERNATIONAL

Kissingers Widersprüchlichkeiten

Henry Kissinger prägte in den siebziger Jahren als Sicherheitsberater und Außenminister entscheidend die amerikanische Außenpolitik. Darüber hat er in seinen Memoiren ausführlich berichtet. Er war ein Spiegel amerikanischer Widersprüchlichkeiten. Er war ein großartiger strategischer Denker verbunden mit besessenem politischen Egozentrismus. Er stellte moralische Ansprüche, während er humanitäre Überlegungen verwarf und Menschenrechte ignorierte.

Er wusste geopolitische Macht einzusetzen, fürchtete aber Ideen, die, wie er glaubte, gefährlich wären und die nicht seinen Vorstellungen entsprachen. Kissingers Versuche, Stabilitäten für die USA zu schaffen, schloss die Unterstützung von Staatsstreichen – ungeachtet davon, ob es sich dabei um Demokratien handelte – und die Akzeptanz von massenhaften zivilen Opfern ein.

Diplomatie war für ihn, all diese Gegensätze auf einen gemeinsamen Nenner zu heben, und – wie er sagte – „Wahrscheinlichkeiten abzuwägen” und „Nuancen der Möglichkeiten zu meistern”. Kissingers Memoiren und seine thematischen Bücher bieten eine unverzichtbare Quelle für das Studium der amerikanischen Außenpolitik. Sie beschönigen aber auch seine Rolle, wenn nötig durch Unterlassungen und historische Unwahrheiten.

Diplomatischer Erfolg mit China mit unschönem Beigeschmack in Pakistan

Der wohl größte diplomatische Erfolg von Kissingers Karriere, die Annäherung an China durch den Besuch bei Mao Tse Tung in Peking 1972, war aber nicht so sehr seine Idee, wie es in seinen Darstellungen erscheint. Es war Präsident Nixons Auftrag, sich Gedanken über eine neue Chinapolitik mit der Orientierung „Eindämmung ohne Isolierung” zu machen. Ein Gegengewicht gegen die Sowjetunion sollte geschaffen und die USA in Vietnam entlastet werden, wie Nixon bereits 1967 formulierte.

Nixon und Kissinger setzten diese Politik dann aber auch ohne Rücksichten um. Sie gaben dem pakistanischen Militärregime unter Muhammad Yahya grünes Licht, 1971 in Ostpakistan zu intervenieren, was drei Millionen Tote zur Folge hatte. Sie benötigten Yahya für die Öffnung zu China. Mit den handschriftlich beigefügten Worten „An alle Beteiligten: setzt Yahya jetzt nicht unter Druck” bestätigte Nixon Kissingers Memo.

Krieg in Südostasien: “Jedes Ziel angreifen!”

Der Analytiker Henry Kissinger wusste Ende der sechziger Jahre sehr wohl, dass der Krieg in Vietnam nicht zu gewinnen war. Dennoch ließ er den Krieg eskalieren. Er nahm an, dass durch einen Rückzug Washington die Fähigkeit verlieren würde, Nordvietnam in Verhandlungen zwingen zu können. Vielmehr noch, er weitete den Krieg mit der geheimen Bombardierung des neutralen Kambodscha aus. Er forderte einen „Plan, nach dem jedes gottverdammte Ding, das fliegen kann, in Kambodscha jedes Ziel angreift, das sich ergibt.” Begründet hatte Kissinger seine Aktionen mit der Domino-Theorie, wonach der Fall eines Landes an den Kommunismus andere nach sich ziehen würde, was sich in der Geschichte nicht nachweisen lässt.

Henry Kissinger war besessen davon, die Glaubwürdigkeit der USA gegenüber der Sowjetunion, China aber vor allem gegenüber den Verbündeten nicht zu verlieren. Er unterbrach Verhandlungen mit Nordvietnam, weil Südvietnam diese nicht wollte. Um Verlässlichkeit zu demonstrieren, antwortete Kissinger 1972 mit verstärktem Bombardement Nordvietnams, was unmittelbar zum Tod von 1000 Zivilisten führte. Diese Missachtung menschlichen Lebens unterschied ihn nicht von Autokarten unterschiedlichen Typs. Das Gegenteil, was er hoffte, trat ein. Das Gelegenheitsbündnis von Moskau, Peking und Hanoi wurde gestärkt und es fiel dann auseinander, als die US-Truppen Vietnam verließen. Henry Kissinger erhielt 1973 gemeinsam mit Lê Đức Thọ den Friedensnobelpreis für ein Waffenstillstandsabkommen. Die USA mussten nach zehnjährigem Krieg und mehreren Millionen Toten aus Süd-Ostasien abziehen.

Günes Licht für Massenmord in Osttimor

Die Unterstützung der indonesischen Invasion des Diktators von General Suharto in Osttimor 1975, die 100.000 bis 180.000 Tote zur Folge hatte, ist ein weiteres Zeugnis von Kissingers Gleichgültigkeit gegenüber menschlichem Leben und nationaler Souveränität. Bei einem Treffen von General Suharto mit Präsident Ford und Außenminister Henry Kissinger in Jakarta am Vorabend der Invasion gab Kissinger Suharto den Rat, dass es wichtig sei, dass „was immer Sie machen, schnell sein muss”. Es sollte aber nicht wie „eine ausländische Operation” aussehen, sondern wie „Selbstverteidigung”. Dieses Argument wird vor allem von Großmächten immer wieder als Legitimation von militärischen Operationen herangezogen.

Von der Leidenschaft für nukleare Abschreckung zur Abrüstung

In seinen Büchern verneint Kissinger, dass die USA jemals nach Hiroshima und Nagasaki 1945 außer während der Kuba-Krise 1962 den Einsatz von Nuklearwaffen erwogen hätten. Das ist eine klare Beschönigung. Überlegungen zu einen Nuklearwaffeneinsatz hat es im Korea- und Vietnamkrieg, bei der Taiwan-Krise 1958 und beim beginnenden chinesischen Nuklearprogramm in den frühen sechziger Jahren gegeben. Nachdem Nordkorea 1969 ein Aufklärungsflugzeug der USA über internationalen Gewässern abgeschossen hatte, schlug Kissinger beispielsweise einen Vergeltungsschlag auf eine nordkoreanische Luftwaffenbasis vor, und falls Nordkorea mit einem Gegenschlag auf Südokorea reagierten, sollte Washington “zu Nuklearwaffen greifen und es völlig auslöschen”.

Henry Kissinger war ein leidenschaftlicher Befürworter von Nuklearwaffen. Als Professor in Harvard teilte er nicht Präsident J. F. Kennedys Besorgnis über die Gefahren von Nuklearwaffen. Er glaubte bereits in den fünfziger Jahren9 an die Möglichkeit eines begrenzbaren Nuklearkrieges, nahm aber an, dass konkrete Planung notwendig wäre, um gleichzeitig die Sowjetunion abzuschrecken. Er sah schon damals die Doppelrolle von Nuklearwaffen, Einsatz und Abschreckung, und wollte sie gegebenenfalls auch anwenden. Eine derartige Planung für Ersteinsatz von Nuklearwaffen sollte insbesondere erfolgen, für den Fall, dass die NATO von den konventionellen Truppen des Warschauer Paktes überrannt werden würde. Er setzte die These des begrenzten Nuklearkrieges gegen die Strategie der gegenseitigen Zerstörung (MAD). Es wäre „absurd, die Strategie des Westens auf die Glaubwürdigkeit des gegenseitigen Selbstmordes zu stellen”.

Bevor er den Abschluss des Vertrages über das Verbot von Anti-Ballistischen-Raketen (ABM) 1972 akzeptierte, kritisierte er diesen aber heftig, mit dem Argument, dass es moralisch gerechtfertigt ist, Raketen abzufangen, wenn damit auch das Prinzip der Zweitschlagfähigkeit geschwächt worden wäre. Fälschlicherweise begründete er die Notwendigkeit eines Abwehrsystems mit der Gefahr chinesischer Raketen, er meinte aber damit die sowjetischen, wie er zehn Jahre später zugab: „Zu Beginn konnte ein Abwehrschild nur verkauft werden, indem es als Schutz vor chinesischen und nicht vor den sowjetischen angewendet wird”.11 Die gleiche Taktik wurde von der Regierung George W. Bush angewendet, als sie 30 Jahre später 2002 den ABM-Vertrag mit der Begründung kündigte, dass neue Abwehrraketen gegen die Bedrohung durch Raketen vom Iran und von Nordkorea und nicht diejenigen von Russland notwendig wären.

Während sich Kissinger während seiner Amtszeit vehement für nukleare Abschreckung eingesetzt hatte, befürwortete er aber auch Rüstungskontrolle (etwa den SALT I Vertrag). In seinen späten Jahren hat er sich gemeinsam mit George P. Shultz, William J. Perry, und Sam Nunn in einer Serie von Artikeln im Wall Street Journal für eine Welt ohne Nuklearwaffen eingesetzt, deren Einsatz das Ende der Welt zur Folge hätte.

Probleme mit Israels Nuklearwaffen

Israels Nuklearwaffen beschäftigen Kissinger ebenfalls seit deren Existenz. Nachdem Henry Kissinger als Harvard-Professor im Jänner 1965 eine israelische Delegation in Tel Aviv getroffen hatte, bewies er außerordentlichen Instinkt. Er beobachtete, dass sich israelische Wissenschaftler sehr sicher wären, „dass diese Waffen notwendig waren, und dass sie wussten, wie sie hergestellt werden können”. Präsident L. B. Johnson, wie auch schon John Kennedy, verließen sich hingegen auf die Versicherungen des dritten Premierministers Levi Eshkol, dass die Nuklearanlage in Dimona nur friedlichen Zwecken diente. Die internationalen Inspektoren konnten 1964 und 1965 ebenfalls keine Hinweise auf eine Nuklearwaffenproduktion finden. Bei dieser nuklearen Vergangenheit ist es nicht verwunderlich, dass Israel hinter Irans Nuklearprogramm dieselbe Taktik vermuten.

Acht Jahre später, als 1973 einige arabische Staaten während des Yom Kippur Krieges Israel angriffen, signalisierte der israelische Verteidigungsminister Moshe Dayan den USA, dass die Existenz des jüdischen Staates auf dem Spiel stehe und dass Israel den arabischen Staaten mit Nuklearwaffen drohen müsse, wenn die USA nicht zusätzliche Militärhilfe gewähren würden. Washington wollte aber auch nicht, dass seine Beziehungen mit den arabischen Staaten zu sehr beschädigt werden. Henry Kissinger kalkulierte daher, dass genau so viel Hilfe gewährt werden sollte, dass „Israel aus dem Krieg etwas besser aber mit einer blutigen Nase herauskäme, die USA aber unbeschadet blieben”. Nach dem Krieg zeigte seine Shuttle-Diplomatie gewisse Erfolge, die zum Ausgleich Israels mit Syrien und Ägypten führte. Bei der Lösung der Palästinenserfrage scheiterte er.

Hilfe für Chiles Junta

Der Wahlsieg Salvador Allendes 1970 in Chile war ein Schock für die Nixon-Regierung. Der Sicherheitsberater Henry Kissinger forderte: „Das Möglichste tun, um Allende zu verhindern!” Im September 1970 leitete Henry Kissinger die CIA-Bemühungen, einen Militärputsch zu organisieren, um zu verhindern, dass Präsident Salvador Allende, der mit der Mehrheit der Stimmen gewählt worden war, als Präsident angelobt wird. „Ich sehe nicht ein, warum wir ein Land marxistisch werden lassen sollen, nur weil die Bevölkerung unverantwortlich ist”, empfahl er Präsident Nixon. Er organisierte ein „40er Komitee – Treffen”, um Allendes Angelobung zu verhindern. Eine der ersten Maßnahmen führte direkt zur Ermordung von Chiles Generalstabschef René Schneider. Sofort begannen Maßnahmen von Präsident Richard Nixon und seinem Sicherheitsberater Henry Kissinger, Chile zu destabilisieren und Salvador Allendes Regierungsfähigkeit zu unterminieren. „Jetzt kann man leicht voraussagen, dass es eine gute Möglichkeit gibt, wenn Allende gewinnt, er eine Art kommunistische Regierung über Jahre hinweg etabliert”, warnte Kissinger. Entsprechend seiner Domino-Theorie argumentierte er, dass eine Reihe anderer Länder Lateinamerikas folgen würden.

1973 organisierte Kissinger den Sturz von Salvador Allende – mit dem Codenamen FUBELT – , nachdem die Verhinderung seiner Angelobung nicht gelungen war. Die Operation, Allendes Regierungsfähigkeit zu destabilisieren, schaffte ein „Putschklima”.

Der darauffolgende Putsch General Pinochets führte zu einer fast zwanzig jährigen blutigen Diktatur. Nationale Sicherheitsinteressen hatten für Henry Kissinger Vorrang vor Demokratie und Menschenrechten.

Nach dem Putsch antwortete Kissinger auf die Frage Präsident Nixons, ob die US-Hand im Putsch sichtbar sei: „Wir haben ihnen geholfen und (gelöscht) schufen die Bedingungen soweit wie möglich”.19 Trotz der Briefings über massive Menschenrechtsverletzung sagte er zum Militärdiktator 1976: „Meine Einschätzung ist, dass Sie ein Opfer von all den linksgerichteten Gruppen überall in der Welt sind, und Ihre größte Sünde war, dass Sie eine Regierung stürzten, die kommunistisch werden würde.” Im Juni 1976 hatte die Junta etwa 30.000 unschuldige Chilenen eingekerkert und gefoltert und etwa 3.000 exekutiert.

Der Fall Moro

Die Furcht Henry Kissingers vor linken Ideen drückte sich in seiner Domino-Theorie aus, aber auch in der Furcht vor dem gemäßigten Sozialisten Salvador Allende und dem sozialdemokratisch gewordenen Eurokommunismus in Italien. Kissinger fürchtete, dass „eine erfolgreich gewählte marxistische Regierung in Chile sicherlich einen Einfluss – ja eine Vorbildwirkung – auf andere Teile der Welt hat, speziell in Italien” hätte. Wieder bewies Kissinger politischen Instinkt über das was sich in Italien entwickelte, maß den Ereignissen aber eine völlig überproportionale, ja irrationale Gefährlichkeit bei. Seit Beginn der siebziger Jahre begannen der damalige italienische Außenminister aus der regierenden Christlich Demokratischen Partei (DC) Aldo Moro und der Vorsitzende der sozialdemokratisch orientierten italienischen Kommunistischen Partei (PCI) Enrico Berlinguer über eine Regierungsbeteiligung der PCI, die 30-35 % der Wähler repräsentierte, zu verhandeln. Daraus entwickelte sich 1973 die Idee des „Historischen Kompromisses”.

Die PCI hatte sich von der Sowjetunion emanzipiert und akzeptierte Italiens NATO-Mitgliedschaft. Henry Kissinger mischte sich massiv in die Innenpolitik Italiens ein. Bei einem Treffen der beiden Außenminister am 25. September 1974 setzte Kissinger Aldo Moro heftig unter Druck. Die Frau von Aldo Moro, Eleonora, berichtete später vor einer Untersuchungskommission von diesem Treffen in Washington, dass ihrem Mann gedroht wurde: „Entweder Sie geben Ihre politische Linie auf, oder Sie werden fürchterlich dafür zahlen.”24 Sie schrieb diese Drohung Henry Kissinger zu.

Nach dem Treffen sagte Moro alle weiteren Treffen ab und kehrte zurück nach Italien. Henry Kissinger machte kein Geheimnis daraus, dass er Aldo Moro als „gefährlich” und „verschlagen” betrachtete. Einer der Gründe für Kissingers Ressentiment gegenüber Aldo Moro war, dass dieser als italienischer Außenminister den USA die Landung in Italien für den Nachschub für Israel während des Yom Kippur Krieges 1973 verweigert hatte. Außenminister Kissinger und Präsident Ford warnten bei zahlreichen Gelegenheiten 1975 und 1976 vor der Politik Aldo Moros, die PCI an der Regierung zu beteiligen.

Bei einem Botschaftertreffen in London am 13. Dezember 1975 machte er klar: „Es ist schwer vorzustellen, dass die eine oder die andere dieser (kommunistischen) Parteien die Kontrolle einer westlichen Regierung übernimmt.” „Wir müssen das Äußerste tun”, damit die Diskussionen in der NATO ohne diese Parteien fortgeführt werden können. Er verurteilte den „historischen Kompromiss” von Aldo Moro und Enrico Berlinguer

Eine andere Organisation nahm Kissinger aber diese Sorge ab. 1978 wurde Aldo Moro von der linken Terrororganisation „Rote Brigaden” entführt und ermordet. Die italienische Regierung lehnte jegliche Art der Verhandlungen zur Freilassung Aldo Moros ab. Die „Roten Brigaden” wollten ebenso, allerdings aus völlig anderen Gründen, verhindern, dass die PCI an der Regierung beteiligt wird. Es ist nicht ohne Ironie, dass am Tag der Entführung die PCI für die neue Regierung der DC im Parlament stimmte. Kissingers Angst vor der PCI erwies sich als übertrieben und unbegründet.

Widersprüchliches zur Ukraine

Zum Krieg in der Ukraine hatte Kissinger sehr unterschiedliche realpolitische Anregungen gemacht. Im März 2014 schlug er die Blockfreiheit der Ukraine vor: „Auf internationaler Ebene sollten sie eine Haltung einnehmen, die mit der Finnlands vergleichbar ist. Dieses Land lässt keinen Zweifel an seiner starken Unabhängigkeit aufkommen und arbeitet in den meisten Bereichen mit dem Westen zusammen, vermeidet aber sorgfältig eine institutionelle Feindschaft gegenüber Russland.”

2022 meinte er, dass es ohne territoriale Zugeständnisse der Ukraine keinen Frieden geben werde. Beides wurde aber von der von ihm geprägten Welt ignoriert. Deshalb machte er im Jänner 2023 dem ukrainischen Präsidenten das Zugeständnis, dass die Ukraine nun doch der NATO beitreten solle. „Ich dachte, dass die Entscheidung, die Mitgliedschaft in der NATO offen zu lassen, sehr falsch war”, sagte er jetzt. Mit einer Mitgliedschaft sollte die Ukraine sowohl kontrolliert als auch geschützt werden. Europa müsste aber gleichzeitig einen Ausgleich mit Russland finden, um stabile Grenzen zu schaffen.

Über China

Kissinger hat in seinem epochalen Werk „Über China” von 2011 einen pragmatisch-kooperativen Umgang der USA mit China vorgeschlagen. Henry Kissinger drückte in diesem Buch die Hoffnung aus, dass sich die amerikanisch-chinesischen Beziehungen, trotz natürlicher Großmachtkonkurrenz, kontinuierlich verbessern könnten. Kissinger sah die Verpflichtung von Präsident Obama und dem damaligen chinesischen Staatspräsidenten Hu Jintao zu einer „positiven, kooperativen und umfassenden US-China Beziehung” als eine gute Basis.

Ein Beispiel wären die beginnenden Verhandlungen über die Trans-Pazifische Partnerschaft (die inzwischen von beiden Parteien in den USA aufgegeben wurde). Kissinger schlug das Konzept einer „Pazifischen Gemeinschaft” vor, in der China und die USA gemeinsame Ziele zumindest bei einigen Themen von allgemeiner Wichtigkeit entwickeln könnten. Kissinger warnte sowohl vor den ideologischen Auffassungen in den USA, die alle autoritären Regime, inklusive das Chinas, beseitigen wollen, als auch vor den Interpretationen in China, die USA als wankende Supermacht zu sehen, die nur Chinas Aufstieg behindern wollte. Gegenseitige feindschaftliche Rhetorik würde, so Kissinger, früher oder später zu feindlichen Aktionen führen.

Die amerikanisch-chinesischen Beziehungen seien nicht ein Nullsummenspiel und ein erfolgreiches und mächtiges China könne nicht an sich als Niederlage der USA betrachtet werden. „Eine in die Länge gezogene Konfrontation zwischen China und den USA würde die Weltwirtschaft zu beunruhigenden Konsequenzen für alle führen. … China und die USA werden nicht die normal existierende Großmachtrivalität überwinden. Aber sie schulden es sich selbst und der Welt, sich darum zu bemühen.” Die beiden Großmächte unter den Führungen der letzten zehn Jahre scheinen die Worte Kissingers jedoch nicht zu beherzigen.

Kissingers Welt

Henry Kissinger war eine Mischung aus Realpolitiker und Theoretiker. Im Unterschied zu seinen realpolitischen und kurzsichtigen Gewissenslosigkeiten hinterlässt Henry Kissinger weitblickende weltpolitische Analysen. Kissinger hatte klare Kriterien, mit denen er die Weltentwicklungen beurteilt. Es ist das Westfälische System, das nach 1648 die moderne Staatenwelt hervorbrachte. Dieses reiche aber nicht aus zu Schaffung von Ordnung, Freiheit und Frieden.

Dazu gehört ein funktionierendes Gleichgewicht der Mächte sowie ein ausgewogenes Verhältnis von Macht und Legitimität. Das Staatensystem alleine bringe noch keinen Frieden, wie das 18. Jahrhundert zeigte. Es muss nach Kissinger ergänzt werden durch das System des Mächtegleichgewichtes. Das Konzert der Mächte, das dem Wiener Kongress 1815 folgte, war eingebettet in ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Macht und Legitimität. Es brachte fast ein Jahrhundert Frieden, weil sich die Großmächte auf allgemeine Prinzipien geeinigt hatten.

Gestört wurde dieser Friede der Großmächte durch den Krimkrieg und letztlich geriet die Balance zwischen Macht und Legitimität durch die Forderung nach nationaler Selbstbestimmung außer Kontrolle. Kissinger kritisiert, dass der Vertrag von Versailles 1919 durch den Ausschluss Deutschlands weder Legitimität noch ein Gleichgewicht herstellen konnte.

Kissinger hat schon in den siebziger Jahren vorausgesehen, dass die USA nicht mehr die alleinige Weltmacht sein könne. Er hat nach dem Vorbild des Wiener Kongresses eine Pentagonale der Weltmächte, bestehend aus den USA, Europa, der Sowjetunion, China und Japan vorgeschlagen. Die USA wären allerdings der Primus- Inter-Pares. Das Ergebnis sei aber nicht einfach Multipolarität sondern wachsende einander widersprechende Realitäten.


Heinz Gärtner unterrichtet an der Universitäten Wien. Er war Direktor des Österreichischen Instituts für Internationale Politik. Er leitet den Beirat des International Institute for Peace (IIP). Er hatte mehrere internationale Forschungsaufenthalte und Gastprofessuren unter anderem an den Universitäten von Stanford, Oxford, an Johns Hopkins in Washington und in Deutschland. Er publizierte zahlreiche Bücher und Artikel zu Fragen der USA, internationaler Sicherheit, Abrüstung und Rüstungskontrolle. Unter anderem ist er Herausgeber des Buches "Engaged Neutrality" (Lexington).