WOHIN TREIBT‘S EUROPA?  - Teil 1: Auf dem Weg zur Verteidigungsunion?

Wenige Monate vor der Wahl zum Europäischen Parlament im Jahre 2004 hatte ich ein kleines Büchlein verfasst, mit dem Titel „Wohin treibt‘s Europa“. Ich habe bewusst das Wort treiben gewählt, bringt es doch eine Mischung von aktivem Handeln und von passiven Getrieben werden zum Ausdruck. Wenn wir die Europäische Union - und in diesem Zusammenhang verwende ich oftmals den Begriff Europa als Synonym - betrachten und die Entwicklungen der letzten Jahre, so waren die entscheidenden Entwicklungen immer eine Kombination von „äußeren“ Einflüssen und inneren „autonomen“ Entscheidungen. In mehreren Beiträgen möchte ich den nächsten Wochen versuchen darzustellen, wohin Europa treibt bzw. aus meiner Sicht treiben soll. 

Die EU wird grösser

Eine wesentliche Veränderung in Europa war die Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft insbesondere durch die große Erweiterung von 2004 und dann durch Rumänien und Bulgarien als Nachzügler im Jahr 2007. Der Fall der Berliner Mauer und des Eisernen Vorhangs war sicher keine direkte Konsequenz der Existenz bzw. der Politik der Europäischen Gemeinschaft. Aber die neuen Entwicklungen im „Osten“ des Europäischen Kontinents hatten für die Europäischen Union einen Handlungsdruck erzeugt. 

Weder die Wiedervereinigung Deutschlands noch die Aufnahme der von Moskau unabhängigen Staaten und Völker in die EU waren eine Selbstverständlichkeit. Wie bekannt gab es darüber auch Diskussionen und unterschiedliche Meinungen. Ich selbst hatte dazu eine klare Meinung. Nahe dem Eisernen Vorhang geboren und mit familiären Wurzeln in Böhmen und Ungarn hatte ich ein starkes auch emotionales Empfinden für die Anliegen der Menschen dieser Länder. Aber mich beschäftigten auch die Situationen der verschiedenen Minderheiten wie die der Roma und Sinti in mehreren Ländern des Ostens und des Süd-Osten und die der Ungarn in der Slowakei. Soweit ich konnte, habe ich mich mit einigen Kolleg*innen für eine Verbesserung deren Lage eingesetzt. 


Ich halte nach wie vor die Erweiterung der - nunmehrigen - Europäischen Union der Jahre 2004 und 2007 für einen entscheidenden Schritt in Richtung Frieden und Wohlstand in Europa. Nach wie vor bedaure ich, dass die Erweiterung um die Länder des Westbalkans stecken geblieben ist. Das ist zum Teil auf eine Erweiterungsmüdigkeit auf Seiten der EU aber oft auch auf sehr nationalistische Kräfte und eine Reformunwilligkeit bei den Staaten des Westbalkans zurückzuführen. 

Die Neuordnung Europas und Russland

Die Erweiterung der Europäischen Union hatte ich nie als einen unfreundlichen Akt gegenüber Russland gesehen. So wie viele andere habe ich auf Reformen in Russland selbst gehofft. Diese Reformen, vor allem auch Schritte in Richtung Demokratie, sowie die Anerkennung der Selbstständigkeit der ehemals von Moskau kontrollieren Staaten, sollten dann auch die Grundlage für ein neues Verhältnis zwischen der EU und Russland schaffen. Ich setzte mich auch immer für die russischsprachige Minderheiten in den baltischen Staaten ein und besuchte sie auch mehrmals, um mit ihren Vertreter*innen deren Interessen zu besprechen. Nicht immer wurde das von meinen Kolleg*innen aus der Mehrheit dieser Länder gerne gesehen. Allerdings war mir auch immer bewusst, welches Leid die sowjetische Besetzung, insbesondere in den baltischen Ländern, mit sich gebracht hat. Die Sowjetischen Truppen kamen als Befreier - von den Nazis - und blieben als Besatzungsmacht. Und Putin‘s Bedauern über den Zerfall der Sowjetunion machte klar, dass Putin die Neuordnung in Europa nicht akzeptieren wollte. 

Als Sozialdemokraten versuchten wir auch mit einer russischen „Oppositionspartei“ Kontakte zu pflegen, um dort Verbündete für eine gemeinsame europäische Politik zu gewinnen. Aber der Großteil der Führung war letztendlich genauso nationalistisch und reaktionär, wie Putin selbst und diejenigen die dabei nicht mitspielen wollten, mussten letztendlich das Land verlassen, um ihre Haut zu retten. So beendete ich diesen Versuch der Kooperation als ich Vorsitzender der S&D Fraktion wurde. Genauso musste ich handeln, als klar wurde, dass sich die ukrainische „Partei der Regionen“ von Viktor Janukowitsch nicht in Richtung der Sozialdemokratie entwickelte. Alle Versuche sozialdemokratische Bewegungen in Russland bzw. der Ukraine zu initiieren bzw. zu unterstützen waren zum Scheitern verurteilt. In Russland hatte Putin nicht vor, demokratische Entwicklungen zuzulassen. Und in der Ukraine herrschten - trotz bzw. mittels Wahlen - mehrere Oligarchen, die zum Teil Russland zugeneigt und zum Teil abgeneigt waren. Die Ukraine blieb jedenfalls stark oligarchisch geprägt.


Ich selbst und viele in meiner Fraktion, aber auch darüber hinaus haben eine Politik der Verständigung und der Kooperation mit Russland vertreten. Das war nicht überall beliebt und wir wurden oft der Naivität geziehen. Es ist schwer zu beurteilen, ob eine Russland gegenüber offenere Politik der EU bzw. der NATO den furchtbaren Aggressionskrieg gegen die Ukraine verhindert hätte. Aus heutiger Sicht spricht vieles dagegen. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine kann durch nichts gerechtfertigt werden und belegt - leider -, dass eine europäische Einigung ohne klare Verteidigungsstrategie nicht funktionieren kann. Das muss nicht die oft beschworene Militarisierung der EU bedeuten, aber die Entwicklung einer europäische Verteidigungsstrategie.

Europäische Verteidigungspolitik 

Wie immer das Verhältnis EU zur NATO und damit zur USA gestaltet wird, ist doch klar, dass es einer europäischen Verteidigungspolitik bedarf. Das darf nie bedeuten, dass Abrüstung und Verständigung über Grenzen hinweg ausgeschlossen werden. Diese Ziele sind weiter zu verfolgen, aber gleichzeitig bedarf es einer deutlichen Verteidigungsbereitschaft. Durch die russische Aggression wurde die EU in diese Lage getrieben. Was die Europäische Union allerdings vermeiden muss, ist eine Politik, die von sich aus die Spaltung Europas und die Feindschaft zu Russland vorantreibt. Da gibt es in der EU einige Kräfte, die in Russland und sogar der russischen Kultur einen permanenten Feind sieht. Und auch wenn die russische Propaganda nicht nur das Militär, sondern auch die Literatur etc. für ihre expansionistischen und brutale Politik missbraucht, die EU muss immer auch die Möglichkeit eines anderen Russlands mitdenken. 

Aber ist eine solche Politik angesichts einer Gewichtsverlagerung in Richtung Osten, die vielfach festgestellt wird, noch möglich? Einer der besten Kenner des europäischen „Ostens“, Jaques Rupnik geht genau dieser Frage nach. Er geht davon aus, dass sicher eine um die Ukraine erweiterte EU in Polen, Rumänien und im Baltikum die Versuchung entstehen lassen kann, einen gegen Frankreich und Deutschland gerichteten Block zu bilden. Aber die finanziellen Mittel, um der Ukraine auf die Beine zu helfen und um auch den Westbalkan, kommen genau von diesen Ländern, die die Ukraine voll unterstützen aber dennoch eine pragmatische Politik gegen Russland - nicht gegen Putin!- vertreten. Und Polen mit seiner, gegen eine starke Union gerichteten, „anti-liberalen“ Politik setzt sich selbst Grenzen für die eigene Führungsrolle in der Europäischen Union. So meint Rupnik schlussfolgernd: „Der geopolitische Schwerpunkt verschiebt sich gegen Osten, gewiss, aber die Institutionen und die Wirtschaftsmacht bleiben im Westen.“ 

Das mag sich für die NATO anders darstellen, vor allem dann, wenn die USA eine deutlich anti-russische Linie fahren. Aber sogar Präsident Biden und sein Team haben beim jüngsten NATO-Gipfel gegen eine vorschnelle Entscheidung hinsichtlich einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine ein Veto eingelegt. Die USA sind sicher für eine Schwächung Russlands. Aber sie vertreten manchmal stärker einen realpolitischen Standpunkt als rein moralisch argumentierende Europäer, die die Wunden, die ihnen die Sowjetunion zugefügt haben, nicht vergessen können. Und Putin hilft ihnen dabei, dass sie sich immer wieder daran erinnern. 

Haltung gegenüber Russland 

Die Entwicklung in Polen wird in dieser Hinsicht eine entscheidende Rolle spielen. Einerseits ist jedenfalls die jetzige Regierung stark anti-Russisch geprägt, anderseits wehrt es sich gegen die Einwände der Europäischen Kommission, die die Einhaltung der rechtsstaatlichen Prinzipien einmahnt. Kürzlich hat der von mir sehr geschätzte polnische Intellektuelle und Journalist Adam Michnik zur Frage der Russophobie in Polen Stellung genommen und gemeint: „Nur weil der Kreml überall eine Russophobie erkennt, heißt das nicht, dass es sie nicht gibt. Wir müssen uns davor hüten anzunehmen, dass jeder Russe ein Schläger, ein Dieb und ein Rabauke ist. Sicher ist eine emotionale Perspektive angesichts der Tatsache, dass die russischen Truppen unschuldige Ukrainer und Ukrainerinnen töten, verständlich…..Es bleibt allerdings gefährlich jeden Russen, jede Russin nur deshalb zu verdammen, weil sie einfach Russen und Russinnen sind.“ 

Für Adam Michnik ist das wichtig festzustellen, weil gerade jetzt die Russophobie in Polen wieder erstarkt und alte Ressentiments bedient. Das trifft leider nicht nur auf Polen zu. So wie es leider immer wieder Menschen gibt die eine naive, russophile Einstellung gegenüber dem Land und seinen Bewohner*innen auch auf Putin und sein brutales Regime übertragen, gibt es Menschen, die eine ablehnende Haltung gegenüber Putin, „seine“ Oligarchen und die militärische Führung Russlands auch auf die Bevölkerung und die ganze russische Kultur übertragen. Weder Hass auf alle Russen noch naive Liebe zur russischen Kultur zeigen einen Weg in eine friedliche Zukunft. 

Die europäische Sicherheit hängt sehr stark von der Entwicklung in Russland ab. Es ist richtig, dass die EU sie nicht unmittelbar beeinflussen kann. Manche meinen, die europäische Politik sollte sich damit gar nicht beschäftigen. Aber das westliche Verhalten gegenüber Russland ist ein Faktor, der auch die innere Entwicklung beeinflusst und die wieder ist entscheidend für die europäische Sicherheit. Europas Sicherheit verlangt eine eindeutige Haltung gegenüber aggressivem und imperialem Verhalten jeglicher russischer Führung. Aber Europa und der Westen insgesamt muss auch Wege aufzeigen wie eine Zukunft gegenseitigen Respekts und der Anerkennung der territorialen Unversehrtheit zu einem friedlichen Europa führen können. Genau von diesen Voraussetzungen muss eine zukunftsfähige europäische Verteidigungspolitik ausgehen. 


Dr. Hannes Swoboda, President of the International Institute for Peace (IIP), started his career in urban politics in Vienna and was elected member of the European Parliament in 1996. He was Vice President of the Social Democrat Group until 2012 and then President until 2014. He was particularly engaged in foreign, enlargement, and neighborhood policies. Swoboda is also President of the Vienna Institute for International Economics, the Centre of Architecture, the University for Applied Science - Campus Vienna, and the Sir Peter Ustinov Institute.