WOHIN TREIBT’S EUROPA? - Teil 3: Europa und die USA 

Das Verhältnis der Europäischen Union zu den USA ist ein wechselhaftes - von beiden Seiten aus. Manchmal treibt‘s Europa in Richtung der USA und manchmal weg von den USA. Aber unzweifelhaft ist Europa ein Verbündeter der USA. Nicht immer war dieses Verhältnis eines, das beiden zum Ruhme gereichte. Vor allem der Sklavenhandel erzeugte eine schändliche und verbrecherische Vernetzung zwischen den beiden Kontinenten - und auch mit Afrika.  Von dort kamen allerdings die Opfer - wenngleich zum Teil(!) unter Mithilfe einiger lokaler Akteure. Das ändert nichts an der ungeheuren Schuld des Westens, eine Schuld, die nach Meinung vieler auch heute noch nicht abgetragen ist. 

Der Westen
Gemeinsam bilden die USA und die Länder der Europäischen Union den Kern des „Westens“. Dieser Westen dominierte weitgehend die Entwicklung, vor allem im vergangenen Jahrhundert, wobei die USA durch einen zweimaligen Kriegseintritt und durch die herausragende wirtschaftliche Stärke der dominante Partner dieses Bündnisses war und wahrscheinlich wieder geworden ist. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine hat das Bündnis- vor allem innerhalb der NATO wieder gestärkt. Die militärische Stärke der USA hat dabei den Ausschlag gegeben. Viele halten die USA auch in diesem Fall als den Faktor, der den Krieg von Seiten des Westens am Laufen halten möchte. Sicher möchte auch die USA die Chance der russischen Aggression nützen, um Russland auf Dauer zu schwächen. Aber die USA lassen dabei auch Vorsicht walten. Denn wie der letzte NATO-Gipfel gezeigt hat, haben die USA mehr Zurückhaltung hinsichtlich der Aufnahme der Ukraine in die NATO gezeigt als manche Europäer. 

Lange wurde mit „Westen“ auch eine besondere Zivilisation gemeint. Im Extremfall wurde sogar der Westen mit Zivilisation gleichgesetzt. Aber diese rassistische Interpretation haltet der Überprüfung mit der Realität nicht statt. So stellt Naoise Mac Sweeney in ihrer umfangreichen Arbeit „The West - a New History of an Old Idea“ fest: „Heute müssen alle Historiker und Archäologen anerkennen, dass die gegenseitige Befruchtung der „westlichen“ und „nicht-westlichen“ Kulturen während der ganzen menschlichen Geschichte stattgefunden hat und dass die kulturelle DNA des modernen Westens sehr viel den nicht-europäischen und nicht-weißen Vorfahren zu verdanken hat.“

Dennoch kennt die Weltgeschichte viele gewaltsame Interventionen der westlichen Welt in nicht-europäischen und nicht-weißen Regionen aus einer Position bzw. einem Gefühl der Überlegenheit heraus. Während sich die meisten europäischen Länder immer mehr von solchen imperialen Aktionen zurückzogen, hielten die USA noch länger an solchen Interventionen fest. Zum Teil wurden sie dabei von einer Koalition der Willigen aus Europa unterstützt. Ein besonderes Beispiel war die – völkerrechtswidrige - Intervention im Irak, an der einige europäische Länder teilnahmen - auch wenn sie heute wenig davon wissen wollen. So unterschiedliche Präsidenten wie Barack Obama und Donald Trump haben eine Kehrtwendung des amerikanischen Interventionismus eingeleitet. Und Präsident Biden vollzog sie in Bezug auf Afghanistan. 

Europa und das Militärische 
Es wäre sehr zu begrüßen, wenn der „Westen“ sich in Zukunft von einseitigen und klar völkerrechtswidrigen Interventionen enthalten würde. Der Westen könnte so an moralischer Autorität gewinnen. Das wäre vor allem für Fälle wichtig, wo es aus humanitären Gründen wirklich notwendig wäre zu intervenieren. Die „Responsibility to Protect“ (R2P) also ein humanitäres Interventionskonzept, wie es im Rahmen der Vereinten Nationen ausgearbeitet wurde, könnte dann wirksam umgesetzt werden. Europa als Friedensunion müsste hier stärker und deutlicher auf eine humanitäre und friedensorientierte Interventionspolitik drängen - möglichst im Rahmen von multinationalen Organisationen wie der UN. Allerdings muss der Westen davon ausgehen, dass in nächster Zukunft vor allem der Sicherheitsrat durch ein russisches Veto blockiert sein wird. Es ist richtig, dass auch die USA und in geringerem Maß das Vereinigte Königreich und Frankreich immer wieder ihr Vetorecht missbraucht haben. Aber derzeit trägt Russland die Hauptverantwortung für die Blockade.

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine hat die europäische Verteidigungsbereitschaft auf eine schwere Probe gestellt. Es war und ist beeindruckend, wie rasch Europa insgesamt reagiert hat. Aber wieder war zu bemerken, dass ohne die amerikanische militärische Hilfe, die europäische Unterstützung zu schwach ausgefallen wäre. Auf die Dauer gibt es nur zwei Möglichkeiten das Verteidigungspotential zu erhöhen. Einerseits könnte Europa - als Europäische Union oder innerhalb der NATO - massiv aufrüsten. Die Alternative dazu ist und bleibt die Zusammenarbeit mit den USA als zentrales Moment der europäischen Verteidigungspolitik. In beiden Fällen bleibt das entscheidende Atomwaffenarsenal ohnehin in den Händen der Amerikaner. Und so bedauernswert das ist, angesichts der russischen Bedrohung mit Atomwaffen kann ohne dieses Arsenal keine ernsthafte Abschreckung funktionieren. Unabhängig davon ist jedenfalls eine stärkere inner-europäische Kooperation unbedingt nötig. Es gibt viel zu viel Zweigleisigkeiten und zu wenig Interoperabilität, was die Ausrüstung der europäischen Armeen betrifft. Und dadurch wird viel Geld verschwendet, das sinnvollerweise eingesetzt werden könnte. Und man muss auch zur Kenntnis nehmen, dass wie Grey Anderson und Thomas Meaney kürzlich in der New York Times nachvollziehbar argumentierten, die Aufrüstung im Rahmen der NATO primär der amerikanischen Rüstungsindustrie zugutekommt. Jedenfalls solange es keine ausreichende moderne europäische Rüstungsindustrie gibt. 

Immer wieder muss man betonen, dass gerade auch die EU als Friedensunion eine starke Verteidigungskapazität sicherstellen muss. Vor allem dann, wenn auf der anderen - russischen - Seite Kriege vorbereitet und ohne Anlass begonnen werden. Aber auch dann muss die Europäische Union nach Möglichkeiten zu einem Waffenstillstand und langfristig zu einem Frieden suchen. Aber dieser Frieden soll mit einem Minimum an Ungerechtigkeiten und damit neuen Störfaktoren für einen dauerhaften Frieden verbunden sein. Eine Europäische Union, die möglichst viele Nachbarn der gegenwärtigen EU durch politische und wirtschaftliche Angebote an sich bindet, hilft sicher die notwendige Stabilität in Europa wieder herzustellen. Das muss nicht immer gleich eine Vollmitgliedschaft dieser Länder bedeuten. Jedenfalls ist der Einsatz des Militärs zwar notwendig aber nicht hinreichend, um eine neue Friedensordnung in Europa herzustellen. Europa als Friedensprojekt muss umfassender gedacht und gestaltet werden. 

Die USA als Konkurrent zu Europa
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat sicherlich die USA und Europa militärisch wieder näher aneinandergerückt. Und die stärkere Zurückhaltung der USA bei gewaltsamen Interventionen brachte ebenfalls eine Annäherung zwischen den beiden westlichen Partnern. Aber es bleibt sicher noch die kritische Frage des Verhältnisses der USA zu China. China ist für die USA nicht nur eine militärische Herausforderung im pazifischen Raum, sondern wird seitens der USA auch als wirtschaftliche Bedrohung wahrgenommen. Es ist nicht verwunderlich, dass eine Wirtschaftsmacht wie die USA, die davon ausgeht, dass sie für immer die Nummer 1 bleibt, einen wichtigen Konkurrenten abwehren möchte. Aber auch die USA müssen zur Kenntnis nehmen, dass es weder möglich ist noch Sinn macht, China einen weiteren wirtschaftlichen Aufstieg zu verweigern. Sicher verfolgt China mit diesem Aufstieg auch politische Ziele - nicht zuletzt hinsichtlich einer Vereinigung mit Taiwan. (Dabei ist strittig, ob es sich um eine Wiedervereinigung handelt, aber auch die USA gehen von einer Ein-China Politik aus.) Für den Weltfrieden und insbesondere für Europa wäre eine Zurückhaltung aller Seiten in der Taiwan Frage sicher hilfreich. 

Auch für Europa ist China ein Konkurrent, es sieht aber im Allgemeinen die Lage etwas entspannter und pragmatischer. Europa ist jedenfalls mit China stärker wirtschaftlich verknüpft als die USA. Und die Vertreter der EU waren jedenfalls gut beraten von der Forderung eines Decoupling zum Konzept eines Derisking überzugehen. Auch wenn man das Derisking nie genau definieren kann, es drückt jedenfalls aus, dass hinsichtlich kritischer Vorprodukte wie seltene Erden und Metalle etc. die Abhängigkeit von China reduziert werden sollte. 

Darüber hinaus sollte Europa mehr als die USA China auch als notwendigen Partner sehen, um die Herausforderungen des Klimawandels zu bewältigen. Da gibt es von Seiten Chinas durchaus widersprüchliche Signale. Noch immer kommt es sowohl im Inland als auch im Ausland seitens China zum massiven Bau von Kohlekraftwerken. Anderseits gibt es auch positive Signale einer effizienten Klimapolitik. Ohne China und Indien wird es nicht zu einer einigermaßen Annäherung an die Pariser Klimaziele gehen. 

Das trifft selbstverständlich auch auf die USA zu. Diesbezüglich hat Präsident Biden eine deutliche Kehrtwendung gegenüber Präsident Trump vollzogen. Mit der von ihm initiierten Gesetzgebung und vor allem dem „Inflation Reduction Act“ hat Biden allerdings die Europäer in Schwierigkeiten gebracht. Die amerikanischen Maßnahmen verzerren den Wettbewerb und animieren manche wichtige - vor allem auch energieintensive - Unternehmungen ihre Aktivitäten in die USA zu verlagern. Diesbezüglich müssten die Europäische Union und die Mitgliedsländer handeln, um eine De-Industrialisierung zu Gunsten der USA zu verhindern.

Manche sprechen in diesem Zusammenhang von einer „Biden Doktrin“. Sie besteht aus der wirtschaftlichen Unterstützung der Mittelklasse, der forcierten Klimapolitik und neuen Verteidigungsanstrengungen. Da passen dann sowohl die aktive Industriepolitik als auch eine Politik zur politischen und wirtschaftlichen Eingrenzung Chinas dazu. Beide Elemente sind im Zusammenhang mit dem Konzept des Derisking zu sehen, ein Konzept, das die USA von der EU übernommen haben. 

In wirtschaftlicher Hinsicht bleiben die Vereinigten Staaten jedenfalls der Hauptkonkurrent der Europäischen Union. Das schließt natürlich nicht aus, in wichtigen Fragen zusammen zu arbeiten. Angesicht der immensen Herausforderungen, vor allem auch im Bereich der Künstlichen Intelligenz, wäre es strafbar nicht gemeinsame Wege hinsichtlich der Anwendung und auch der Kontrolle der KI zu suchen. Die Europäer haben in vielen Fällen eine eher restriktive und vorsichtigere Haltung was die Entwicklung und Anwendung neuer Technologien betrifft. Die Amerikaner gehen hier öfters risikoreichere Wege. Dennoch sind die Gemeinsamkeiten größer als die Unterschiede in der Herangehensweise an technologischen Erneuerungen. Jedenfalls haben Russland und vor allem China hinsichtlich des Schutzes von Persönlichkeitsrechten in diesem Zusammenhang eine deutlich andere Einstellung. Die Möglichkeiten der Überwachung und generell die Wahrung staatlicher Interessen überwiegen die Wahrung privater Interessen. Und beide wollen ihr Konzept der Überwachungsmöglichkeiten auch in internationalen Organisationen, die die entsprechenden Normen ausarbeiten, durchsetzen. 

Unterschiede widersprechen nicht der Kooperation
Angesichts der gewaltigen Machtverschiebungen - vor allem in Richtung China - und auch der unterschiedlichen Auffassungen, wie mit politischer Macht umzugehen ist, sollte nicht ein blinder Anti-Amerikanismus, wie er oft in Europa - nicht zuletzt in Österreich - zu bemerken ist, gemeinsame Vorgangsweisen zwischen der EU und den USA verhindern. In meinen Gesprächen als EU-Abgeordneter mit Vertretern des US Kongresses stieß ich sowohl auf völlig abstruse Einstellungen als auch auf Ideen und Vorhaben, die denen in Europa sehr ähnlich waren. 

Zu den ersteren gehörte vor allem die in beiden großen Parteien vorhandene aggressive Haltung gegenüber Kuba. Auch die Gespräche mit den radikalen Vertretern der Tea Party, die die reaktionäre Wende unter den Republikanern einleitete, waren kaum vernünftig zu führen. Auf der anderen Seite gab es immer wieder Vertreter deren Ansichten den europäischen sehr nahe kamen. Und dann hatten wir bei jedem USA-Besuch auch ein spannendes Gespräch mit Senator Sanders, der sicherlich eine Ausnahmeerscheinung war und noch immer ist. Aber Europa kann sich die Partner nicht frei aussuchen, vor allem, wenn die EU die globalen Verhältnisse beeinflussen möchte. Und die Amerikaner sind in vielen Fällen - keineswegs in allen - noch die geeignetsten Partner zur Durchsetzung europäischer Interessen. Nie allerdings sollte die EU zu einem Erfüllungsgehilfen der Amerikaner werden. Aber dazu braucht es eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der EU und eine immer mehr zusammenwachsende Europäische Union und nicht bloße ein „Europa der Vaterländer“, wie das derzeit von den rechtspopulistischen Parteien, zuletzt von der AfD propagiert wurde.


Dr. Hannes Swoboda, President of the International Institute for Peace (IIP), started his career in urban politics in Vienna and was elected member of the European Parliament in 1996. He was Vice President of the Social Democrat Group until 2012 and then President until 2014. He was particularly engaged in foreign, enlargement, and neighborhood policies. Swoboda is also President of the Vienna Institute for International Economics, the Centre of Architecture, the University for Applied Science - Campus Vienna, and the Sir Peter Ustinov Institute.