KRIEG UND FRIEDEN 2023

Zu Beginn des letzten Jahres habe ich drei potenzielle Kriege als Gefahren dargestellt: einen russischen Angriff auf die Ukraine, einen Angriff auf Iran und einen Krieg um Taiwan. Es war natürlich klar, dass es auch andere Regionen gab und gibt, die zu kriegerischen Auseinandersetzung führen würden bzw. schon geführt haben. Der Krieg im Jemen, in Äthiopien und im Kongo sind dafür Beispiele. In all diesen Fällen sehen wir Verknüpfungen von internen Auseinandersetzungen, also Bürgerkriegen und von externen Einflüssen und Teilnahme von Nachbarstaaten am Krieg. Dennoch, der Krieg gegen die Ukraine, die Spannungen im Nahen Osten und im Fernen Osten haben größere globale Auswirkungen als diese „regionalen“ Konflikte. 

Krieg gegen die Ukraine
Wenige Wochen nach Beginn des Jahres 2022 ist der Krieg Russlands gegen die Ukraine ausgebrochen. Unmittelbar nach Ausbruch dieser militärischen Auseinandersetzung rechneten viele mit einem raschen Sieg Russlands. Vor allem Putin und seine Vasallen rechneten damit, aber nicht nur sie. Die Dinge kamen glücklicherweise anders. Zu Beginn des Jahres 2023 sehen wir, dass Russland diesen Krieg nicht gewinnen kann, die Ukraine leistete erfolgreich Widerstand - mit Hilfe des Westens, vor allem mit militärischer Unterstützung durch die USA. Dieser Widerstand führte aber nicht zu einem ukrainischen Sieg im Sinne der Wiedereroberung der im Laufe der letzten Jahre verlorenen Territorien. Wir stehen Anfang 2023 vor einer Pattsituation.

Auch wenn Russland diesen Krieg nicht gewinnen konnte und kaum gewinnen können wird, so hat er ungeheures Leid über das ukrainische Volk gebracht und immense Zerstörungen der Infrastruktur und der Gebäude verursacht. Es ist kaum zu glauben, dass es Menschen gibt, die so etwas befürworten, geschweige denn ausführen. Die moralische Seite des Krieges liegt eindeutig bei den Verteidigern. Und dennoch muss sich auch die Ukraine überlegen, wie man zu einem Waffenstillstand und letztendlich zu einer Friedenslösung kommen kann - neben der Versorgung mit Waffen, um der russischen Aggression Einhalt zu gebieten. 

So meinte unlängst der deutsche Rechtsprofessor Reinhard Merkel in der F.A.Z. unter dem Titel, „Verhandeln heißt nicht Kapitulieren“, dass auch die Ukraine eine Pflicht hat „sich auf Verhandlungen einzulassen“. „Jenseits einer Schmerzgrenze, an der die Verwüstung des Landes und der Menschen jede moralische Proportionalität übersteigt, noch immer allein auf die Fortsetzung der Gewalt zu dringen und jede Verhandlung über deren Ende abzulehnen ist nicht tapfer, sondern verwerflich.“ Im Weiteren unterscheidet auch Merkel zwischen der Nicht-Anerkennung der völkerrechtswidrigen Annexionen der Territorien seit Februar dieses Jahres einerseits und der Krim anderseits, denn diese steht „unter einer russischen Administration, der die große Mehrheit ihrer Bevölkerung zustimmt“. Im ersten Fall liegt das Recht einseitig auf der Seite der Ukraine, im Falle der Krim sieht Prof. Merkel die Dinge anders gelagert. 

Der ehemalige hochrangige deutsche Botschafter und Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, hat kürzlich - im Handelsblatt - „Zehn Punkte für den Frieden“ veröffentlicht. Auch für ihn ist der Ausgangspunkt die ungeheuren Leiden der Bevölkerung, die Verwüstungen des Landes und der immense Hass, der dadurch geschürt wird. Ziel ist für ihn die Sicherheit der Ukraine durch eine Mitgliedschaft in der NATO. Solange das nicht möglich ist, gilt es bilaterale Sicherheitsgarantien auszusprechen und die Ukraine militärisch so auszurüsten, dass jeder Angreifer erfolgreich abgeschreckt werden kann. Zusätzlich muss aber auch für Russland in einer zu bildenden euro-atlantischen Sicherheitsarchitektur ein Platz vorzusehen sein. 

Jedes realistische Friedenskonzept setzt voraus, dass sich die Ukraine jetzt und in Zukunft verteidigen kann. Und das gilt nicht nur für die Ukraine. Leider stehen wir, wie Herfried Münkler es in der N.Z.Z. formuliert hat, erst „am Anfang einer Phase der Remilitarisierung von Politik in Europa“. Mich hat sehr beeindruckt, was Ada Wordsworth kürzlich in der New York Review of Books geschrieben hat. Sie, die mit starken Worten -"bombing for peace is like fucking for virginity“- gegen Waffen und Krieg demonstriert hatte, musste angesichts der Leiden der Flüchtlinge an der ukrainisch-polnischen Grenze ihre Meinung ändern. „Früher hätte ich argumentiert, dass Wut in einen Dialog übergeführt werden muss. Aber an dieser Grenze erkannte ich klar die Unmöglichkeit eines Dialogs, wenn ein Land ein anderes überfällt.“

Dennoch dürfen nicht nur(!) Waffen sprechen. Sie sprechen ja nicht, sondern sie zerstören Lebensgrundlagen und letztendlich das Leben selbst. Und Worte können entscheidend sein, wie es auch der ukrainische Schriftsteller Serhiy Zhadan ausdrückt. Auch wenn die russische Aggression und Putins unglaublicher und menschenverachtender Zynismus es schwierig machen, Gespräche zum Ende des Krieges und zur Herstellung einer langfristigen Friedensordnung sind notwendig. Ich bin mir im Klaren, dass Aufrufe, auch(!) an den Frieden zu denken, heute vielfach nicht gerne gehört werden, insbesondere wenn sie von deutschen ExpertInnen kommen. Und so widerspricht auch der deutsche Völkerrechtler Helmut Phillip Aust seinem deutschen Kollegen Reinhard Merkel und meint „Russland hat jedes Vertrauen verspielt“. 

Aber es geht nicht um Vertrauen oder um eine rein völkerrechtliche Fragestellung, sondern um die Abwägung von Leiden und Opfern, die der russische Angriffskrieg jedenfalls mit sich bringt. Dabei müssen die einen anerkennen, dass angesichts der russischen Aggression Waffen nötig sind, um den Angriff zurückzuweisen. Und die anderen müssen anerkennen, dass Waffen allein keinen Frieden bringen können - und die drohende totale Zerstörung eines Landes, seiner Infrastruktur und seiner Menschen auch politische und sogar territoriale Kompromisse rechtfertigt und vielleicht sogar notwendig macht.  

Jetzt Ukraine und dann Taiwan? 
Der Krieg Russlands gegen die Ukraine hat die Spannungen im Fernen Osten, vor allem auch zwischen den USA und China, kurzfristig überschattet. Allerdings rätselten einige ExpertInnen von Beginn des Krieges an, ob dieser China ermutigen würde, Taiwan mit Gewalt in den chinesischen Staat einzuverleiben - wie der Taiwanesische Präsident argumentierte - oder im Gegenteil davon eher abhalten würde. Letztere Meinung nahm parallel zum Versagen der russischen Streitkräfte zu. Es ist nicht so leicht sich ein fremdes Territorium gegen den Willen der Bevölkerung einzuverleiben. Vor allem wenn starke militärische Kräfte die angegriffene Bevölkerung unterstützen. 

Dennoch darf man Taiwan nicht mit der Ukraine vergleichen. Taiwan ist nach der „Ein China“ Politik, die die Mehrheit der Staaten und auch die USA vertritt, kein eigener Staat. Es gehört rechtlich zu China, allerdings hat die chinesische Regierung keine Gewalt über dieses Territorium und seine Bewohner. Und international wird die Meinung vertreten, dass es zu keiner gewaltsamen Wiedervereinigung kommen sollte. Es geht also darum den fragilen status quo beizubehalten. Das ist umso wichtiger zu betonen, als die chinesische Führung immer wieder das Militär auffordert, sich auf eine gewaltsame Übernahme vorzubereiten, sollte eine friedliche Wiedervereinigung nicht möglich sein. Und die Art und Weise, wie die chinesische Parteiführung die Wiedereingliederung von Hong Kong durchführte, ist einer freiwilligen Zusammenführung von China und Taiwan abträglich. 

Sicherung des status quo 

In diesem Zusammenhang meinten Judy Blanchette und Ryan Hass kürzlich im Magazin „Foreign Affairs“, dass die beste Lösung keine Lösung sei. Auch die US-Streitkräfte müssten sich auf eine militärische Auseinandersetzung mit China vorbereiten. Aber man sollte China nicht in eine Ecke treiben. Am sinnvollsten ist eine Unterstützung der Verteidigungsbereitschaft Taiwans und die klare Aussage, dass die USA großes Interesse am status quo haben. Und wahrscheinlich hat auch China schon aus wirtschaftlichen Gründen ein großes Interesse am status quo.

Unabhängig von der Taiwan Frage geht es auch in Asien darum ein Sicherheitsgleichgewicht herzustellen. China ist nicht zuletzt durch große wirtschaftliche, politische und militärische Anstrengungen die stärkste asiatische Macht geworden. Zwar ist Indien dabei, China bevölkerungsmäßig zu überholen. Aber es hat nicht den Einfluss - auch nicht jene Gewaltbereitschaft - wie China. Entscheidend für Krieg oder Frieden in Asien wird sein, inwieweit die einzelnen Länder von Indien bis Japan bereit sind, politisch und militärisch zu kooperieren. Ebenso entscheidend ist inwieweit diese Länder bei aller Verteidigungsbereitschaft gegen mögliche Aggressionen seitens China, dieses Land dennoch in eine asiatische Sicherheitsarchitektur einbauen wollen und können. Das wird allerdings nicht leicht sein. 

Wenn auch China keinen Krieg gegen ein Land führt, wie Russland gegen die Ukraine, so ist die chinesische Politik in seiner unmittelbaren Nachbarschaft vor allem im süd-chinesischen Meer auf Expansion aus. Und die Gründung von „Polizeistationen“ und Pseudo-Gerichten, die Auslandschinesen disziplinieren sollen, zeugt von einem weltumspannenden Sicherheitssystem das Chinas Rolle als Weltmacht unterstreichen soll. Alle ChinesInnen, wo immer sie sich aufhalten, sollen den Zielen Chinas, wie sie die KP Chinas bzw. Xi Jinping definieren, dienen. Eine solcher Art expansionistische Politik muss nicht zu einem Krieg führen. Eine kluge Politik von militärischen Bündnissen und Einbeziehung in ausgewogene Sicherheitsarchitekturen seitens des Westens und der asiatischen Verbündeten kann den status quo bezüglich Taiwans und in Asien generell beibehalten. Der ist zwar fragil, aber jedenfalls besser als kriegerische Auseinandersetzungen. 

Krieg gegen die eigene Bevölkerung 
Im Nahen Osten ist kein neuer Krieg ausgebrochen. Allerdings kann man jedenfalls im übertragenen Sinn davon sprechen, dass manche Regierungen gegen die eigene Bevölkerung Krieg führen bzw. Teile der Bevölkerung einer Diskriminierung und einer Repression aussetzen. Der brutale Krieg in Syrien gegen die eigene Bevölkerung, an dem auch Russland und der Iran beteiligt war und ist, ist noch nicht zu Ende. Und auch die Türkei mischt sich wieder stärker in die inneren Auseinandersetzungen ein. Im Iran geht die Regierung massiv gegen die Menschen vor, die sich gegen die fortgesetzte Bevormundung und Unterdrückung wehren. Im Vordergrund geht es um die Religion, in Wirklichkeit allerdings geht es um die Machterhaltung mit all der damit verbundenen Korruption der führenden Schichten. Und Ähnliches spielt sich jetzt in Israel ab. 

Entschwindet Israels Demokratie? 
Unmittelbar nach den Wahlen meinte der Israelische Philosoph Omri Böehm in einem Beitrag in „Die Zeit“: „Israel steht vor einem Abgrund….tatsächlich erlebt Israel einen Weimar-Moment und das ist nicht metaphorisch gemeint. Die Demokratie wählt sich ab.“ Der bekannte israelische Autor David Grossman schrieb in der F.A.Z. „Alles, was seit der Wahl in Israel geschah, ist angeblich legal und demokratisch. Aber unter diesem Deckmantel wurde - wie schon mehr als einmal in der Geschichte - die Saat des Chaos, der Leere und der Unordnung in den wichtigsten israelischen Institutionen gestreut…. Das Chaos ist da mit all seiner Sogkraft. Der innere Hass ist da….Auch die Menschen, die Gutes böse nennen und Böses gut nennen, sind schon da. Und auch die Besatzung wird in absehbarer Zeit nicht enden, sie ist schon jetzt stärker als alle Kräfte, die auf der politischen Bühne aktiv sind.“

Für die israelische Zeitung Haaretz ist die neue Regierung die „extremistischste Regierung in Israels Geschichte….und wenn nur ein Teil der drakonischen Maßnahmen der Koalitionsvereinbarung umgesetzt wird, wird der Charakter Israels bis zur Unkenntlichkeit verändert.“ Und viele Kommentatoren in Israel selbst - und auch außerhalb - erkennen drei Schlüsselfaktoren der neuen Regierung: Rassismus, Besetzung und Religion. Und es sind diese dominierenden Schlüsselfaktoren, die zu Diskriminierung und Repression führen - gegen die Araber in Israel, gegen die Palästinenser in den besetzten Gebieten und gegen die, die die orthodoxe und extreme Auslegung der jüdischen Religion ablehnen, zum Beispiel die LGTB-Gemeinschaft. 

Jenseits der geradezu grotesken Aussagen der zum Teil vorbestraften Minister ist der Hass gegen die „Anderen“ eine tragende Säule dieser Regierung. Friedenspolitisch ist zu hoffen, dass dieser Hass und das von David Grossman beschworene Chaos nicht zu Aggression nach außen, zum Beispiel zu einem Angriff auf den Iran führt. Aber diese Regierung wird sicher keine Anstrengungen unternehmen, um eine Friedenslösung mit den Palästinensern zu erzielen. Alles, was sie vorhat, geht ins Gegenteil. Die einzige Annäherung ist die an die ebenfalls autoritären und religiös orientierten Staaten in der Region. In diesem Sinn hat sich Israel sogar an den Iran angenähert. Beide Regierungen benützen Religion, um ihre Macht abzusichern. Das bringt aber keinen Frieden, sondern schafft zusätzlichen Unfrieden. 

Welche Hoffnung bleibt für 2023?
Wenn man die drei Krisenregionen mit ihren globalen Auswirkungen betrachtet, so kommt nicht viel Hoffnung für eine friedliche Welt auf. Zu hoffen bleibt aber, dass im Laufe des Jahres die heiße und grausamste Phase des Krieges gegen die Ukraine beendet werden kann. Das würde noch keinen Frieden bedeuten, aber das Ende des täglichen Tötens und den Beginn des Wiederaufbaus. Und zu hoffen bleibt, dass weder im Nahen noch im Fernen Osten ein neuer Krieg ausbricht. Und zu hoffen bleibt, dass in Äthiopien eine dauerhafte Friedenslösung hergestellt werden kann. Es bleiben noch genügend Kriege und Krisen, die es zu lösen gilt. Und vor allem ist die Klimapolitik eine Aufgabe, die globale Zusammenarbeit erfordert und wo jeder Krieg uns von der Lösung entfernt.


Dr. Hannes Swoboda, President of the International Institute for Peace (IIP), started his career in urban politics in Vienna and was elected member of the European Parliament in 1996. He was Vice President of the Social Democrat Group until 2012 und then President until 2014. He was particularly engaged in foreign, enlargement, and neighborhood policies. Swoboda is also President of the Vienna Institute for International Economics, the Centre of Architecture, the University for Applied Science - Campus Vienna, and the Sir Peter Ustinov Institute.