Die Ukraine und ihre vielen Fronten

Es ist erstaunlich was sich seit November 2021 zwischen den USA, der NATO und ihren Verbündeten in Europa auf der einen Seite und Russland auf der anderen Seite abspielt. Selten wurde in Europa so offen über die Möglichkeit einer groß angelegten Invasion in einen europäischen Staat berichtet. Die massive Truppenaufstellung Russlands entlang der ukrainischen Grenzen lässt vor allem die USA eine bewaffnete Eskalation befürchten. Im Zentrum des Geschehens steht die territoriale Integrität der Ukraine, die sich seit 2014 in einem andauernden Konflikt mit Russland befindet. Es steht außer Frage, dass Russland 2014 völkerrechtswidrig die Halbinsel Krim annektiert hat und bewaffnete Separatisten im Osten des Landes unterstützt. Die Situation stellt für die Ukraine eine existenzielle Bedrohung dar, doch es wird viel über die Ukraine und nicht mit der Ukraine gesprochen.


Am Rande eines Krieges?

Während in vielen westlichen Medien seit Wochen über einen möglichen Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine spekuliert wird, scheint diese erstaunlich ruhig zu bleiben. Selbst der ukrainische Präsident, Wolodymyr Selenskyj und der Chef des ukrainischen nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates, Oleksiy Danilov, versuchen zu beschwichtigen und verweisen darauf, dass russische Truppenbewegungen an der ukrainischen Grenze für die Ukraine nichts Neues sind. Die ukrainische Forderung nach vermehrter westlicher militärischer und politischer Unterstützung tut dem keinen Abbruch, schließlich befindet sich die Ukraine bereits seit 2014 im Konflikt mit Russland bzw. mit von Russland unterstützten Separatisten. Dass die Ukraine derzeit nicht von einer militärischen Eskalation ausgeht, bedeutet allerdings nicht, dass sie Russland unterschätzen. Ganz im Gegenteil, sind sie doch seit acht Jahren mit aktiver und hybrider Kriegsführung, Cyberattacken, anti-ukrainischer Propaganda bis zum Verlust eines Teiles ukrainischen Territoriums, der Krim, konfrontiert.

Schon im März und April 2021 kam es zu einer Verlegung zusätzlicher russischer Truppen an die ukrainische Grenze und obwohl auch damals von einer erhöhten Gefahr ausgegangen wurde blieb die Kriegsrhetorik weit unter dem Niveau vom November 2021. Der Konflikt zwischen der Ukraine und Russland, der seinen bisherigen Höhepunkt 2014 in der illegitimen Annexion der Krim und der – ebenfalls illegitimen – Unterstützung ukrainischer Separatisten im Osten gefunden hatte ist aber nur eine Dimension der multidimensionalen Problematik zwischen den USA und seinen Alliierten, der Ukraine und Russland. Die diplomatischen Bemühungen zwischen den USA/NATO und Russland in Genf und in Brüssel zu Beginn des Jahres machten deutlich, dass es weniger um die Ukraine als um die Zukunft der europäischen Sicherheitsarchitektur und die Rolle, die Russland darin hat bzw. haben soll, geht.

 

Russlands fehlerhafte Außenpolitik gegenüber der Ukraine

„Die Ukraine ist nicht Russland“, schrieb einst Leonid Kutschma (ukrainischer Präsident 1994-2005) und Russland hätte gut daran getan, seinem Rat Folge zu leisten. Auch wenn es viele Gemeinsamkeiten in Bezug auf Geschichte, Religion, Sprache und Kultur zwischen der Ukraine und Russland gibt, ist die russisch-ukrainische historische Verbindung keine lineare und die Ukraine war nie ein genuiner Teil des russischen Reiches und der späteren Sowjetunion. Selbst nach der Unabhängigkeit der Ukraine nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde diese als etwas Fehlerhaftes interpretiert, denn „Russen und Ukrainer sind ein Volk“, wie Putin in der Vergangenheit mehrfach betont hat. Der Fokus des russischen Narrativs liegt auf den Gemeinsamkeiten und nicht auf den Unterschieden zwischen Russland und der Ukraine, RussInnen und UkrainerInnen. Ein Fokus, der das ukrainische nationale Projekt generell als feindselig und unnatürlich annimmt und einen blinden Fleck auf innerukrainische Entwicklungen wirft. Anstatt sich den politisch, ökonomisch und sozialen Herausforderungen eines neuen unabhängigen Staates zu stellen und darauf hinzuarbeiten eine unabhängige Ukraine, die russlandfreundlich ist aber auch Teil der westlichen Hemisphäre sein kann, hat sich der Kremel hauptsächlich mit korrupten PolitikerInnen und der korrupten Elite innerhalb der Ukraine eingelassen. Russland hätte gut daran getan einzusehen, dass der Großteil der ukrainischen Elite und das von ihnen getragene politische Projekt von einem eigenen souveränen Staat mit ukrainischer Identität träumt und sich nicht als „kleiner Bruder“, sondern als „freundlicher Nachbar“ Russlands sieht. Die Ereignisse nach der Maidan-Revolution 2013/2014, Annexion der Krim und Unterstützung im Donbass, haben diesen Prozess zementiert, und „der kleine Bruder“ wurde zum „verfeindeten Nachbarn“, der zumindest auf politischer Ebene nur noch in eine Richtung, nämlich nach Westen und in die NATO blickt.

Dass die Beziehung zwischen der Ukraine und Russland seit langem vergiftet sind, soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch das Projekt einer vereinten Ukraine noch nicht beendet ist. Russland hat daran sicher einen Anteil, doch auch die Ukraine ist innenpolitisch unter Druck, rechte Nationalisten beeinflussen das politische System, das Vertrauen in Politik und Institutionen ist geschwächt und die Wirtschaft liegt am Boden. Die großen Hoffnungen nach der sogenannten „Revolution der Würde“ in 2013/14, die sich zu Beginn vor allem gegen das korrupte System stellte, wurden nicht erfüllt. Die vage formulierten und relativ führungslosen Proteste schufen auch ein Vakuum, in welchem unterschiedliche – vor allem nationalistische - Gruppen, die nicht die Mehrheit der UkrainerInnen repräsentiert, zunehmend an Einfluss gewonnen haben und das öffentliche Narrativ maßgeblich prägen. Jegliche Kompromissbereitschaft und/oder Zusammenarbeit mit Russland wird als pro-russische Haltung abgestempelt und daher als anti-ukrainisch interpretiert. Das ukrainische Nationalprojekt gründet seine Basis spätestens seit 2014 auf anti-russischen Fundamenten. Die Ukraine kann es nur als Gegensatz zu Russland geben.

Insbesondere im Osten und Südosten des Landes fürchteten allerdings bereits vor der Revolution am Maidan 2013/14 viele UkrainerInnen um ihre Arbeitsplätze in traditionellen Schwerbetrieben, da sie auf dem europäischen Markt kaum konkurrenzfähig sein würden. Dieser Teil der ukrainischen Bevölkerung hat ein pragmatisches Interesse an guten Beziehungen zu Russland, ohne dass sie das zu pro-russischen Aktivisten machen würde. Das Problem der Ukraine ist keine Spaltung der Gesellschaft per se, sondern ein Problem der politischen Repräsentation unterschiedlicher Ansichten über die Zukunft des Landes. So hat Selenskyj im März 2021, Viktor Medvedchuk, einen „pro-russischen“ Oligarchen und Politiker der größten ukrainischen Oppositionspartei, unter dubiosen Umständen unter Hausarrest stellen lassen und seine Medienhäuser- und Programme geschlossen. Dies zu einem Zeitpunkt als seine Oppositionspartei in Umfragen führte. Auch gegenüber Petro Poroschenko (ukrainischer Präsident 2014-2019) gibt es Untersuchungen wegen angeblichen Hochverrats, was dieser als politisch motiviert kritisiert.

So verständlich es ist jeglichen (pro-) russischen Einfluss in innenpolitische Angelegenheiten verhindern zu wollen (anzumerken: Medvedchuk ist persönlich mit Putin bekannt), so muss dies doch mit rechtsstaatlich korrekten Mitteln geschehen. Auch der Westen täte gut daran, solche Entwicklungen ernsthaft zu beobachten.

 

Welche Rolle spielt die Ukraine für den Westen?

Bereits zu Beginn der Krise haben die USA und ihre Verbündeten deutlich gemacht, dass der Westen sich nicht direkt an einer militärischen Konfrontation beteiligen wird. Stattdessen wurde mit scharfen Sanktionen gedroht, sollte Russland militärisch in der Ukraine intervenieren. US-amerikanische Medien berichten seit November 2021 vor einem sehr wahrscheinlich drohenden Krieg – Russland hat dies seit jeher dementiert. Der Konflikt zwischen der Ukraine und Russland hat den Konflikt zwischen dem Westen und Russland und der Diskussion um die Zukunft einer europäischen Sicherheitsarchitektur wieder ganz nach oben auf die Tagesordnung gesetzt.

Die müßige Diskussion darum, ob Gorbatschow im Zuge der Verhandlungen über die deutsche Wiedervereinigung zugesagt wurde, dass sich die NATO „keinen Zoll“ Richtung Osten ausweiten wird lenkt vom Wesentlichen ab. Weder heute noch damals hätten die USA oder die NATO über die sicherheitspolitische Orientierung osteuropäischer Staaten rechtsverbindlich entscheiden können. Russland, das größte Land der Welt, sieht sich als Regionalmacht und möchte als das auch anerkannt werden. Die NATO-Osterweiterung wird als Affront eines geschwächten Russlands gesehen und weniger als reale Bedrohung. Laut einer Umfrage des Levada Instituts (Andrej Kolesnikov 2022, How do Russians feel about war with Ukraine, Carnegie Moscow Center[1]) glaubt ein Großteil der russischen Bevölkerung, dass die USA und die NATO für die momentane Krise den Großteil der Verantwortung tragen (unterstützt durch dementsprechende Propaganda). Um Dimitri Trenin sinngemäß zu zitieren: Für Russland wiegt ein Vertrauensbruch schwerer als ein Vertragsbruch“ (ZDFinfo Dokuserie „Inside NATO“, Deutschland 2019).

Auch wenn die „Politik der offenen Tür“ der NATO dem liberal demokratischen Wertegerüst moderner demokratischer Nationalstaaten entspricht und prinzipiell zu begrüßen ist, ist es doch verwunderlich, dass 2008 in Bukarest die Aufnahme der Ukraine in das Bündnis angesprochen wurde. Dies zu einem Zeitpunkt in welchem ein Beitritt weder in der ukrainischen Führung Gesprächsthema war, noch eine Zustimmung der Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung gegeben war. Ganz abgesehen davon, dass es aus verteidigungslogischer Sicht weder sinnvoll noch durchführbar gewesen wäre und allgemein bekannt war, dass damit für Russland eine rote Linie überschritten würde. Das ist keine Legimitation für jegliche Intervention in einen souveränen Staat, doch realpolitisch kann ein solches Vorgehen drastische Konsequenzen mit sich bringen, die zu vermeiden, es sich lohnt.

Dennoch scheint das Thema NATO-Erweiterung das Hauptaugenmerk im Konflikt des Westens mit Russland zu sein. Russland fühlt sich durch NATO-Truppenübungen in Osteuropa und an der russischen Grenze provoziert, ganz abgesehen davon, dass die NATO keine wesentliche reale Sicherheitsproblematik für Russland darstellt. Russland ist immer noch die größte Atommacht und an einer militärischen Eskalation zwischen der NATO und Russland hat niemand Interesse. Am allerwenigsten die EU. Es geht vielmehr um Machtansprüche sowie die Anerkennung Russlands als Regionalmacht in Europa und die Anerkennung seiner Sicherheitsinteressen in Europa.

Ob nun Russland seine Streitkräfte proaktiv an der ukrainischen Grenze erhöht hat, um eine Diskussion über Europäische Sicherheit einzuleiten oder aber die westliche Reaktion reaktiv dafür nutzte, um für sich weitreichende Sicherheitsgarantien zu reklamieren, weiß wohl nur Putin selbst. Fakt ist jedoch, dass die USA und die NATO-Partner auf die zwar nicht akzeptable Forderung Russlands eine NATO-Erweiterung für die Ukraine auszuschließen und Truppen aus Osteuropa abzuziehen, reagiert haben und sogar schriftlich darauf geantwortet haben. Das impliziert zumindest, dass die sicherheitspolitischen Bedenken Russlands gehört und auch ernst genommen werden. Es ist Russland gelungen den Westen dazu zu zwingen über Europäische Sicherheit zu diskutieren oder zumindest darüber nachzudenken. Dass auch der 2019 aufgekündigte INF-Vertrag (Mittelstrecken-Nuklearstreitkräfte-Vertrag von 1987 zwischen den USA und Russland) wieder zur Debatte steht ist ein weiterer Erfolg für Russland aus der jetzigen Situation, von welchem im besten Fall ganz Europa profitieren könnte.

Trotz Zusagen (limitierter) militärischer Hilfe für die Ukraine und Sanktionsdrohungen im Falle einer bewaffneten Eskalation kommt der Ukraine in dieser Diskussion höchstens eine dritt- oder viert-rangige Bedeutung zu. Weder der ukrainische Präsident noch sein Außen- oder Verteidigungsminister waren in die Gespräche eingebunden. Dazu kommt, dass diplomatische Bemühungen den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine zu beenden ebenfalls auf dem Abstellgleis gelandet sind. Die Minsk II Vereinbarung, die die Deeskalation und Befriedung des seit 2014 in der Ost-Ukraine herrschenden Kriegs und eine politische Beilegung des Konflikts zum Inhalt hat, wird auch von der Ukraine nicht umgesetzt. Insbesondere rechte Nationalisten in der Ukraine sehen diese Vereinbarung - durchaus nicht unbegründet - als zumindest diplomatischen Sieg Russlands gegenüber der Ukraine. Dennoch könnte die Implementierung des Abkommens einen Normalzustand einleiten und der Bevölkerung in den nicht-regierungskontrollierten Gebieten im Osten zugutekommen. Dass die ukrainische Regierung Minsk II als Nullsummenspiel betrachtet, ist aber auch auf den Einfluss ukrainischer Nationalisten zurückzuführen, die jeglichen Erfolg Russlands als Kapitulation betrachten, ganz egal, ob es zu einer Verbesserung der Lebensumstände der in den betroffenen Gebieten lebenden Menschen führen könnte, oder nicht. Auch wenn die Minsk Vereinbarungen, so wie jedes andere Abkommen auch, sicher nicht perfekt sind, sind sie bis dato doch das einzige Abkommen zur Beilegung des Konflikts, das es gibt.

Doch auch die EU ist sich uneinig und findet keinen gemeinsamen Standpunkt wie sie mit Russland umgehen soll. Während insbesondere für das Baltikum und Polen Russland als existenzielle Gefahr wahrgenommen wird –aufgrund historischer Erfahrungen und den Ereignissen in 2014, die auch damals niemand vorhergesehen hatte – versuchen sich Frankreich und Deutschland weiterhin in Diplomatie, um  einen bewaffneten Konflikt, der sie zu drastischen Maßnahmen zwingen würde, zu verhindern (Deutschland vor allem auch um seinen Energiebedarf sicherzustellen und das Gaspipelineprojekt Nord Stream II nicht zu gefährden). Wie so oft spielt genau diese Uneinigkeit des Westens Russland in die Hände und öffnet Handlungsspielräume. In diesem Zusammenhang ist sicher auch das Treffen am 2. Februar von Putin mit Viktor Òrban zu sehen, der sich seit jeher für die Aufhebung der Sanktionen gegenüber Russland einsetzt.

 

Gibt es Auswege aus dem Dilemma?

Die Vielschichtigkeit dieses Konflikts verunmöglicht eine einfache Lösung. Auch wenn zu hoffen bleibt, dass es zu keiner großen militärischen Invasion der Ukraine kommt, bleibt die Gefahr einer Eskalation. Weder die NATO, noch die EU oder Russland haben Interesse an einer militärischen Konfrontation, doch die Gräben sind so tief, wie seit langem nicht. Die Ankündigung der USA Truppen nach Deutschland und Polen zu senden, deutet nicht auf eine rasche Entspannung der Lage hin.

Eine Möglichkeit der Ukraine, die zunehmend diskutiert wird, wäre eine international anerkannte militärische Neutralität. Dazu bräuchte es jedoch einen offenen Diskurs innerhalb der Ukraine gepaart mit der schwierigen Aufgabe der Konfliktlösung im Osten des Landes und - noch schwieriger –der Lösung der Krimkrise und der Normalisierung des Verhältnisses zu Russland. Zusätzlich steht die Ukraine vor vielen innenpolitischen und soziökonomischen Herausforderungen. So wie die heutigen Nationalstaaten in West- und Mitteleuropa muss auch die Ukraine ihren eigenen Weg finden.

Die EU soll weiterhin versuchen eine militärische Eskalation zu verhindern. Eine militärische Eskalation betrifft in erster Linie die vor Ort lebenden Menschen und jegliche militärischen Eingriffe bringen humanitäres Leid mit sich. Es ist besonders wichtig nicht auf jene zu vergessen, die jeden Tag die Frontlinie überqueren, um Pensionen oder andere Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen und auf jene, die seit Ausbruch des bewaffneten Konflikts direkt betroffen sind oder von einem zukünftigen Kriegsausbruch betroffen wären.

Angesichts der vielen globalen Herausforderungen, der Klimakrise, der Covid-19 Pandemie, Cyber-Kriminalität usw. sollte sich vor allem auch der Westen bemühen eine kluge, friedliche und kooperative Außenpolitik zu fördern. Auch wenn es derzeit nicht wahrscheinlich erscheint, könnte eine Re-orientierung der europäischen Sicherheitspolitik, in welcher Russland irgendwann einen Platz findet, von einer Vision zu Realität werden. Vielleicht muss man Ideen zuerst denken, bevor die Möglichkeit zur Realisierung überhaupt erst zu entstehen beginnt.





[1] Zugriff am 3.04.2022: https://carnegiemoscow.org/commentary/86013


Mag. Stephanie Fenkart MA is Director of the International Institute for Peace (IIP) since 2016. She has an MA in Development Studies from the University of Vienna and an MA in Human Rights from the Danube University, Krems. She is furthermore a member of the Advisory Committee for Strategy and Security Policy of the Scientific Commission at the Austrian Armed Forces (BMLV). She is also a board member of the NGO Committee for Peace, Vienna.