Wir müssen die EU neu aufstellen 🎬

Vor 75 Jahren, in der Nacht vom 8. auf den 9. Mai 1945 wurde der 2. Weltkrieg beendet - Nazi Deutschland kapitulierte. Damit waren die Voraussetzungen fĂĽr ein neues Europa gegeben. Genau fĂĽnf Jahre später hat Robert Schumanns, Vorschläge fĂĽr eine europäische Integration gemacht - „um Kriege nicht nur undenkbar, sondern auch unmöglich zu machen.“ Was immer an Problemen im Zuge der letzten Jahrzehnte entstanden ist, die europäische Integration wurde ein Erfolgsprojekt. Verwunderlich ist nicht, dass es Friktionen und HĂĽrden gab, sondern, dass sie ĂĽberwunden wurden. 

Derzeit allerdings wird vielfach die mangelhafte oder verspätete Reaktion der EU auf die Covid 19 Krise beklagt. Ăśbersehen wird dabei die mangelnde Kompetenz der EU in Gesundheitsfragen. Ja, es gibt einige Ansätze, die eine Reaktion der EU in Krisenfällen ermöglichen - sie wurden zu spät und zu bĂĽrokratisch ergriffen. Aber wie in so vielen anderen Bereichen haben auch bezĂĽglich Gesundheit die Mitgliedsstaaten die Schaffung einer rechtlichen Basis fĂĽr ein stärkeres Engagement verhindert.  Aber anstatt zu klagen und die Auflösung der EU an die Wand zu malen, sollten wir uns vielmehr ĂĽberlegen, wie die Europäische Union weiterentwickelt werden könnte oder wie sie, um den deutschen Politologen Peter Graf Kielmansegg zu zitieren, „neu gedacht“ werden könnte. 

Viele begeisterte Europäer - so auch ich selbst - haben von einem immer mehr zusammenwachsenden Europa geträumt. Manche haben auch die Vereinigten Staaten von Europa herbeigesehnt. Und in gewissem Sinne sollten diese Träume weder abgebrochen noch ausgeträumt werden. Aber wir sollten die Corona Krise und manche Enttäuschung ĂĽber die Union zum Anlass nehmen, einen Paradigmenwechsel vorzunehmen. Der schon zitierte Politologe Kielmansegg sieht die EU als eine Institution, die durch zwei zentrale Elemente bestimmt ist. Es handelt sich dabei einerseits um die Dynamik ständiger Verdichtung der Rechtsordnung, und anderseits um den Ausbau des Binnenmarkts. Aber diese Kombination - und da kann ich ihm nur zustimmen - stößt an ihre Grenzen. Es sollte daher zu einem Paradigmenwechsel kommen, einem â€žWechsel von der Binnenorientierung zur Weltorientierung“!

FĂĽr mich geht es vor allem auch um eine Neugestaltung der Globalisierung. Europa hat durch eine Mischung von Forscherneugier, Kolonialisierung und Diskriminierung den Grundstein fĂĽr eine ungerechte und ausbeuterische Globalisierung gelegt. Die EU hat inzwischen viel dazu gelernt und neue, gerechtere Ansätze entwickelt. Aber noch fehlt es an einer umfassenden und ĂĽberzeugenden Strategie, um die internationalen Verhältnisse gerecht und nachhaltig zu gestalten.  

Nun, sicher gibt es auch diesbezĂĽglich keine einheitlichen Vorstellungen in den einzelnen Mitgliedsstaaten. Aber das angesichts der unterschiedlichen historischen Bedingungen vorauszusetzen, ist ohnedies mĂĽĂźig. Jede Gemeinsamkeit in Europa muss erst mĂĽhsam erarbeitet werden. Dabei geht es auch um die Frage, wie Europa auf die Herausforderungen aus den Ländern wie die USA, Russland oder China im gemeinsamen europäischen Interesse reagieren sollte. Und gerade die Auswirkungen der aktuellen Pandemie zeigen auch die Grenzen und Schwächen des amerikanischen Kapitalismus einerseits und des chinesischen bzw. russischen autoritären Systems anderseits. Hier muss die EU ein alternatives Angebot machen.

Aber es geht es auch darum, wie wir als Europäer unserer Aufgabe als Nachbar zu Afrika mit seinen Problemen aber auch seinen menschlichen und materiellen Ressourcen reagieren sollen. Und dabei sollten wir nicht primär an die Abwehr von FlĂĽchtlingen denken, sondern eine strategische Partnerschaft mit diesem jungen (!) Kontinent entwickeln.  

Eng im Zusammenhand mit der Umgestaltung der Globalisierung steht die Aufgabe der raschen Umsetzung der Klimapolitik. Bei aller Konzentration auf die gegenwärtige Pandemie darf Europa nicht auf die langfristig nicht weniger gefährlichen klimatischen Gefahren vergessen. Auch wenn jetzt vielfach vorgebracht wird, in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit darf man sich den Luxus einer aktiven Klimapolitik nicht leisten, so wäre es ein fataler Luxus auf Klimapolitik zu verzichten. Sie kann geradezu helfen, neue und dauerhafte Arbeitsplätze zu schaffen. Selbstverständlich muss auch die Klimapolitik die sozialen Auswirkungen berĂĽcksichtigen und muss helfen, die krassen Einkommensunterschiede zu verringern, darf sie jedenfalls nicht erhöhen. 

NatĂĽrlich muss sich die EU auch ĂĽberlegen, wie man gemeinsam mit den Mitgliedsstaaten Pandemien wie der aktuellen besser begegnen kann. Die EU kann und soll nicht all die Aufgaben ĂĽbernehmen, die derzeit von den nationalen Regierungen erfĂĽllt werden. Aber die EU könnte die nationalen Regierungen stärker dabei unterstĂĽtzen, aber auch die Einhaltung bestimmter Prinzipien einfordern. Das geht von rechtsstaatlichen Grundsätzen bis zum freien Warenverkehr. Auch wenn das von manchen Regierungen als lästige Einmischung empfunden wird, so darf Europa fundamentale Grundsätze auch in Krisenzeiten nicht ĂĽber Bord werfen. 

Worauf es mir aber im Anschluss an Peter Graf Kielmansegg ankommt, ist das Hinwenden zu einer stärker auf konkrete Projekte und Aufgaben orientierten Struktur und Politik der Europäischen Union. Der niederländische Historiker Luuk van Middelaar spricht auch von Ereignispolitik. Die EU wird immer auch eine Rechtsgemeinschaft bleiben mĂĽssen. Aber die EU braucht - endlich - eine Debatte ĂĽber die wichtigsten Aufgaben, die sie heute und morgen erfĂĽllen muss. Wir mĂĽssen weg von den oft ideologisch gefĂĽhrten institutionellen Debatten, weg von der Ăśberbetonung der Rechtsinstrumente und hin zu einer politischen Debatte kommen. 

Wir sollten uns nicht in Ăśberlegungen verzetteln, wie bestimmte Anliegen umgesetzt werden können, bevor wir uns im Klaren sind, was die EU erreichen kann und will. Und das kann man nicht fĂĽr immer festlegen, auch das macht die Corona Krise deutlich. Debatten ĂĽber die „Finalität“ der EU sind mĂĽĂźig. Wir brauchen vielmehr Ideen, wie wir auf neue Aufgabenstellungen rascher als bisher reagieren können. Und die Definition dieser Aufgaben ergibt sich vielfach aus dem Unvermögen und den begrenzten Möglichkeiten der einzelnen Mitgliedsstaaten einerseits und der UnĂĽbersichtlichkeit und Verantwortungslosigkeit der globalen Verhältnisse anderseits. Gerade in diesen Fällen muss die Europäische Union einspringen und die nationale und globale Ebene miteinander verknĂĽpfen.


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 Dr. Hannes Swoboda, President of the International Institute for Peace (IP), started his career in urban politics in Vienna and was elected member of the European Parliament in 1996. He was Vice President of the Social Democrat Group until 2012 und then President until 2014. He was particularly engaged in foreign, enlargement, and neighborhood policies. Swoboda is also President of the Vienna Institute for International Economics, the Centre of Architecture, the University for Applied Science - Campus Vienna, and the Sir Peter Ustinov Institute.