Virus ohne Grenzen - Gesundheit ohne Grenzen

Jede größere Krise, wie auch diese jetzige Covid-19 Pandemie, ist auch die Zeit der Zukunftsforscher, der sogenannten Futurologen und Prognostiker.

Dennoch scheint niemand so genau zu wissen, wohin die Reise geht. Der US-amerikanische Autor Thomas L. Friedman gibt den englischen Abkürzungen B.C und A.C also Before Christ und After Christ bereits eine neue Bedeutung. Für ihn heißen die beiden Begriffe in Hinkunft: Before Corona und After Corona. Dabei ist es durchaus logisch davon auszugehen, dass einige Trends der letzten Jahre fortgeschrieben und verstärkt werden – das könnte insbesondere für den Nationalismus gelten.

Nationalismus statt Kooperation

Ohne Zweifel haben sich in den letzten Jahren Nationalismus und Xenophobie auch in Europa zunehmend ausgebreitet. Insofern kann ich Ivan Krastev verstehen, wenn er fürchtet, dass der Nationalismus auch in Europa durch die Auswirkungen verbunden mit der Corona-Pandemie noch weiter zunehmen werde. Er meinte unlängst in einem Kommentar im Rahmen des Europäischen Rats für Außenpolitik ECFR „that the coronavirus provides one more demonstration of the mystique of borders, and will help reassert the role of the nation state within the European Union (...).Therefore the Coronavirus will strengthen nationalism.”

Ja, die Grenzschließungen der letzten Tage in der Europäischen Union, vor allem auch innerhalb des Schengenraumes, sind tatsächlich willkürlich und nicht immer mit den Notwendigkeiten der Virusbekämpfung begründbar. Dennoch muss man bedenken, dass das Gesundheitswesen innerhalb der EU eine nationale Kompetenz ist. Auch die Voraussetzungen die Virusverbreitung zu verlangsamen bzw. die Kranken zu betreuen sind sehr unterschiedlich. Denken wir nur an die Versorgung mit Betten, insbesondere mit Intensivbetten sowie ÄrztInnen und PflegerInnen. Hier gibt es eklatante Unterschiede innerhalb der EU. Das gilt insbesondere für die Länder des Balkans aber auch für andere Regionen weltweit. In vielen dieser Länder ist die Gesundheitsversorgung auch im Normalfall unzureichend. Diese unterschiedlichen Voraussetzungen führen leicht zu nationalen Alleingängen und Abschottungen.

Was man oft übersehen hat, ist dass manche rigorose Grenzschließung wichtige Fachkräfte nicht mehr ins Land gelassen hat und zur weiteren Verschärfung der wirtschaftlichen Lage beigetragen hat. Solche Grenzblockaden haben jedenfalls manche Betriebe zu Schließungen gezwungen und mehr Probleme geschaffen als gelöst. Nicht nur die Gütermärkte sind heute eng miteinander verbunden, sondern auch die Arbeitsmärkte.

Besonders grotesk ist diese Situation insbesondere für Inselstaaten wie bspw. Irland oder Zypern, wo die Grenzen quer durch die Insel verlaufen. Anstatt gemeinsam vorzugehen haben die einzelnen Länder unterschiedliche Maßnahmen getroffen. In Zypern jedenfalls, wurden einige der ohnehin wenigen Grenzübergänge von griechisch zypriotischer Seite gesperrt. Die politische Situation auf beiden Inseln ist generell zutiefst bedauerlich. Gerade die jetzige Gesundheitskrise wäre aber eine Gelegenheit gewesen, die Zusammengehörigkeit zu stärken, aber leider liegt das nicht im Interesse nationalistischer politischer Kräfte.

Gesundheit ohne Grenzen

Wie man klar erkennen kann, ist die Versorgung mit medizinischen Hilfsgütern, vor allem mit Medikamenten, nicht allein auf nationalem Wege machbar. Zudem kann auch die Forschung nicht nur national organisiert werden. Da braucht es internationale Zusammenarbeit. Der israelische Historiker Yuval Noah Harari liegt richtig, wenn er einen globalen Plan fordert und meint: „We are confronted with an important choice between national isolation and global solidarity. Both the epidemic itself and the resulting economic crises are global problems. They can be solved effectively only by global co-operation“. Es war der US-Präsident Franklin D. Roosevelt, der bei der Gründung der internationalen Finanzkooperation 1944 gemeint hatte: „ the economic health of every country is a proper concern to all its neighbors, near, and far.“ Was für die wirtschaftliche Gesundheit gilt, gilt umso mehr für die persönliche Gesundheit, wie wir dieser Tage klar vor Augen geführt bekommen: the people’s health of every country is a proper concern to all its neighbors, near, and far.

Wir brauchen also eine Gesundheitspolitik ohne Grenzen. Was uns die Organisation „Ärzte ohne Grenzen“ im Kleinen vorexerziert hat, müsste die Welt heute im Großen nachbauen. Der Virus kennt keine Grenzen und deshalb muss das auch für die Gesundheitspolitik gelten. Ja, wir haben die Weltgesundheitsorganisation WHO. Und sie leistet sicher gute Dienste. Aber das ist nicht genug. Die Unterschiede in der Versorgung mit medizinischen und para-medizinischen Leistungen sind viel zu groß. Wir sind viel zu schlecht auf Lieferengpässen bei Medikamenten und anderen wesentlichen Versorgungsgütern vorbereitet.

Als es 1973 zu Ölkrise kam haben 16 Staaten die Internationale Energie Agentur gegründet. Die IEA mit Sitz in Paris hat heute 30 Mitgliedsländer und verfügt unter anderem über strategische Ölreserven. Heute brauchen wir etwas Ähnliches hinsichtlich der Gesundheitsversorgung in Krisenzeiten. Leider ist uns Europäern mit Trump in den USA ein Partner verloren gegangen, der zumindest für eine solche Lösung ansprechbar hätte sein können. Im Gegenteil, Trump hat sogar jüngst die Beiträge zur WHO gekürzt.

Coronavirus und der Frieden

In Irland und auf Zypern wurde die Gelegenheit versäumt, die Gesundheitsgefährdung über die Streitpunkte zu stellen und neue Anstrengungen für eine Wiedervereinigung zu unternehmen. Wir sollten aber den - idealistischen - Versuch nicht aufgeben, Konflikte hintanzustellen. Der israelische Schriftsteller und unermüdliche Kämpfer für Frieden, David Grossmann, hat auch jetzt die Hoffnung nicht aufgegeben: „Perhaps some will suddenly cast doubt on the reasons that have made their nation fight its enemy for generations and believe that war is a divine edict. Perhaps going through such a difficult human experience will induce people to detect nationalistic views, for example, and reject attitudes that promote separation and xenophobia and self-containment.“

Es ist selbstverständlich, dass David Grossman auch in diesen Zeiten vor allem an Israel und Palästina denkt. In der Tat ist vor allem Israel stark vom Coronavirus betroffen. Allerdings beim Noch-Premierminister Netanyahu ist kein solcher Gedanke, wie ihn Grossman ausdrückt ablesbar. Im Gegenteil, ihm geht es um Machterhalt und um Fortsetzung seiner auf Hass und Teilung der Gesellschaft beruhenden Politik - um jeden Preis. Er will den bestehenden Konflikt nicht überwinden, sondern politisch für sich verwenden.

Coronavirus und gesellschaftliche Kontrolle

Was die gegenwärtige israelische Regierung noch vorexerziert ist der Ausbau der Kontrolle der Bewegungen der BürgerInnen über das Smartphone. Das alles mit dem offiziellen Ziel die Ausbreitung des Virus zu kontrollieren. Aber ein Politiker wie Netanyahu - und nicht nur er- hat oftmals weitergehende Interessen. Politische Kontrolle von Kontakten und Bewegungen sind solchen Politikern ein wichtiges Anliegen. Corona kommt ihnen entgegen und schließlich geht es ja auch um die Vorbeugung von künftiger Epidemien. Da kann doch niemand etwas dagegen haben - oder?


Bei aller Rechtfertigung der von den meisten Regierungen und Parlamenten gesetzten Maßnahmen müssen wir sehr darauf achten, dass einige nicht zu einem Dauerbestand unserer Rechtssystemen werden. Vor allem müssen wir wachsam sein, dass sie nicht auch bei anderen Gelegenheiten schnell aus dem Hut gezogen werden können und zur Anwendung kommen. So hat auch der Oberste Gerichtshof in Israel eine parlamentarische Kontrolle des Nachspürens der BürgerInnen verlangt. Auch einige europäische Autokraten wie Viktor Orban sind schon auf den Geschmack gekommen. Sie werden nicht zögern die Corona-Krise zum Anlass zu nehmen, um ihre autoritäre Politik zu verstärken.

Was wir brauchen ist nicht so sehr die Kontrolle von BürgerInnen, sondern eine globale Gesundheitspolitik, die Voraussetzungen schafft, die die Übertragung von Viren auf den Menschen verhindern, oder jedenfalls nicht fördern. Eine solche globale Politik müsste die Forschung und Entwicklung in der Virologie vorantreiben. Dabei müssten auch wichtige Hilfsmittel und Medikamente ausreichend gelagert oder rasch neu produziert werden. Darüber hinaus sollte schrittweise die Versorgungssituation in den einzelnen Regionen und Ländern angeglichen werden. Es geht also nicht darum Grenzen zu sperren, sondern die europäische aber auch die globale Kooperation zu forcieren. Das klingt alles idealistisch oder sogar utopisch. Aber es wäre genauso wichtig wie eine eindeutige, globale Klimapolitik und die Bemühungen um Frieden und internationale Solidarität.


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Dr. Hannes Swoboda, President of the International Institute for Peace (IP), started his career in urban politics in Vienna and was elected member of the European Parliament in 1996. He was Vice President of the Social Democrat Group until 2012 und then President until 2014. He was particularly engaged in foreign, enlargement, and neighborhood policies. Swoboda is also President of the Vienna Institute for International Economics, the Centre of Architecture, the University for Applied Science - Campus Vienna, and the Sir Peter Ustinov Institute.