25 JAHRE NACH DAYTON - IST DER FRIEDENSSCHLUSS EIN ERFOLG?

Gegen Ende des Jahres 1995, also vor 25 Jahren, kam es in Dayton zu einem Friedensvertrag zwischen den Kriegsparteien des “Jugoslawien Kriegs”. Die Parteien waren müde geworden und keine von ihnen erhoffte einen Sieg einzufahren. Ein neues Bosnien - Herzegowina sollte den Frieden und die Zusammenarbeit der verschiedenen „ethnischen“ bzw. religiösen Gruppen ermöglichen und fördern. Es wurde eine komplizierte Struktur für einen multiethnischen Staat geschaffen, bestehend aus der Republika Srpska mit der Hauptstadt in Banja Luka und einer bosniakisch - kroatischen Föderation mit dem Sitz in Sarajevo, der Hauptstadt des Landes. Diese Föderation wurde wieder in verschiedene Kantone eingeteilt, mit bosniakischer bzw. kroatischer Mehrheit. Das führte im Ergebnis zu einer hohen Anzahl lokaler politischer Mandatare und entsprechenden Kosten. Vor allem aber fühlten sich die Kroaten innerhalb der mit den muslimischen Bosniaken geteilten Föderation benachteiligt und verbündeten sich manchmal sogar gegen diese mit den serbischen Nationalisten. Grundsätzlich hat diese ethnische Einteilung und Fixierung vor allem jenen Schwierigkeiten gebracht, die sich zu keiner dieser Gruppen zugehörig gefühlt haben.

Vom Ende des Krieges zur Europäischen Zukunft: ein steiniger Weg
Der Vertrag von Dayton beendete den ausweglosen Krieg und führte zum Frieden. Und das allein ist sicher ein Erfolg. Heute ist es sehr unwahrscheinlich, dass es erneut zu kriegerischen Auseinandersetzungen kommt. Viele Menschen, die vor dem Krieg geflüchtet waren sind in ihre Dörfer und Städte zurückgekehrt und versuchen ein neues Leben zu führen - ohne Hass und Konflikte. Aber das komplizierte politische System blockierte oft die Entscheidungsstrukturen und verhinderte viele notwendigen Maßnahmen vor allem politische, juristische und wirtschaftliche Reformen.

Jedenfalls konnte ein auf Dauer angelegtes System der „ethnischen“ und religiösen Dominanz der Entscheidungen nicht funktionieren. Noch dazu, wo zwei der drei ethnische Gruppen - die Serben und die Kroaten - jenseits der Grenzen ihre Brüder und Schwestern haben. Nur die Bosniaken waren „allein“ und regional isoliert. Anderseits fühlten und fühlen sie sich als die eigentlichen Staatsgründer und als das wahre konstitutive Staatsvolk und das wurde durch den sehnsüchtigen Blick der anderen Ethnien über die Grenzen hinweg noch unterstützt.

Ich erachte diese Überbetonung der ethnischen Zugehörigkeit und die Unterschiedlichkeit in der regionalen Eingebundenheit der drei Ethnien in einem Staat für ein gravierendes, allerdings überwindbares Problem. Nun argumentieren manche, dass es auch in anderen Ländern wie in Belgien bzw. der Schweiz komplizierte ethnisch bzw. sprachlich dominierte Verwaltungs- und Entscheidungsstrukturen gibt. Nun insbesondere in Belgien sind die entsprechenden Regelungen auch hinderlich für rasche Entscheidungen und blockieren oft die notwendigen Entschlüsse. In einer Welt, in der manche Politiker einen ethnischen Nationalismus fördern, sollten alle die darin eine Gefahr für die Demokratie und den sozialen Ausgleich sehen, dagegen halten Aber vor allem können sich reiche Länder eher den „Luxus“ solcher komplizierter Strukturen leisten. In einer ohnehin komplexen und armen Region mit verschiedenen nach „außen“ treibenden und die Integration behindernden Kräften ist die Überbetonung der ethnischen Momente besonders hinderlich.

Diese daraus entstehenden Konflikte können wahrscheinlich nur regional gelöst werden. Aber nicht durch eine Abspaltung und den Anschluss zweier ethnischer Gruppen an den jeweiligen Nachbarstaat, wobei die serbischen Nationalisten immer wieder die Abspaltung ins Gespräch bringen. Übrigens, jede Diskussion über einen Gebietsaustausch, wie er eine Zeit lang zwischen Serbien und Kosovo im Gespräch war, hat Unruhe in Bosnien-Herzegowina gebracht und war Wasser auf die Mühlen der serbischen Nationalisten. Nur durch eine regionale Verständigung aller Staaten und ihrer ethnischen und religiösen Gruppen kann eine friedliche, gemeinsame Zukunft gestaltet werden. Dies kann realistischer Weise nur durch eine gemeinsame Mitgliedschaft in der Europäischen Union geschehen. Die Frage ist allerdings, ob die EU selbst bzw. die einzelnen Länder bzw. ethnischen Gruppen bereit sind, diesen Weg zu gehen und die notwendigen Voraussetzungen zu erfüllen.

Dauerhafter Friede braucht Akzeptanz und Versöhnung
Ich war das erste Mal in meiner Eigenschaft als Wiener Stadtrat und zwar am 1000. Tag der Belagerung der Stadt durch „serbische“ Truppen in Sarajevo Ich überbrachte einen kleinen finanziellen Beitrag der Stadt Wien dem damaligen Bürgermeister von Sarajevo. Es gab an diesem Tag eine Art Waffenstillstand, allerdings immer wieder hörte man angstmachende Schüsse. Ich werde die Fahrt vom Flugzeug zum Flughafen und dann durch die Stadt im gepanzerten Fahrzeug und die zerschossenen Häuser nie vergessen. Und auch nicht das berühmt gewordene Holiday Inn Hotel, in dem die Fenster mit Pappendeckel statt Glas „verschlossen“ waren. Aber was mussten die Leute erst erleben, die der Stadt nicht entfliehen konnten und den Bedrohungen der Belagerer dauernd ausgesetzt waren. Und ich rede gar nicht vom Massaker in Srebrenica und ähnlichen Gräueltaten. Es bedarf schon besonderer Anstrengungen, um das vergessen zu machen, um bereit zu sein, die „Anderen“ zu akzeptieren und um zur Versöhnung zu kommen.

Der Vertrag von Dayton brachte einen heiß ersehnten Friedensschluss , aber noch keine Versöhnung. Noch immer verweigern viele, das Massaker von Srebrenica anzuerkennen. Aber diese Verweigerungshaltung gilt für Kriegsverbrechen aller Seiten. Auch im Rahmen der Abwehr von Aggressionen können durch die Verteidiger Kriegsverbrechen begangen werden und das war im Rahmen aller Kämpfe im Rahmen des Jugoslawien Kriegs der Fall. Das Internationale Kriegsverbrecher Tribunal in Den Haag hatte den Zweck Gerechtigkeit walten zu lassen. Das ist sicher eine notwendige Voraussetzung für die Versöhnung aber keine hinreichende Bedingung. Vor allem dann wenn sich alle beteiligten Parteien ungerechtfertigt behandelt fühlen. Kriegsverbrechen konnten und können immer nur die „Anderen“ begehen. Aber das Anerkennen eigener Fehltaten ist die Voraussetzung für die Akzeptanz der „Anderen“ und die Versöhnung.

Bei all meinen Besuchen in Bosnien-Herzegowina, ob in Sarajevo bzw. Mostar, in Banja Luka oder Tuzla, war es eine Minderheit, die den gemeinsamen Staat vor Augen hatten. Überall ging es vorrangig um die Verteidigung der eigenen ethnischen Interessen und die Abwehr des Einflusses der „Anderen“. Die Hohen Beauftragten der Internationalen Gemeinschaft und der EU bemühten sich - jeder auf seine Art - die Streitparteien zu gemeinsamen Lösungen zu bringen. Oftmals mussten sie selbst die notwendigen Gesetze erlassen, was aber auch dazu führte, dass die Politiker statt zu Kompromissen bereit zu sein, die Verantwortung auf die Hohen Beauftragten abschoben.

Gerechtigkeit und europäische Integration
In Kriegen - vor allem Bürgerkriegen - in denen es keine Gewinner gibt, kann die Geschichte nicht eindeutig vom Gewinner geschrieben und die Aufarbeitung nicht von außen aufgezwungen werden. Dies war nach dem zweiten Weltkrieg der Fall. Die Alliierten setzten das Nürnberger Gericht ein und verlangten die Aufarbeitung der Schandtaten des Naziregimes. Parallel dazu gab es allerdings die stufenweise Integration, jedenfalls für Westdeutschland. Für den demokratischen Westen war die Integration Deutschlands in die Nato und die EWG - als Vorläufer der EU - der Schlussstrich unter die Nazi Vergangenheit, aber auch unter den von Deutschland mehrmals ausgegangenen Versuch, das Gleichgewicht in Europa, gewaltsam zu verschieben. Die innere Aufarbeitung und Distanzierung von den Gräueltaten der Vergangenheit und die Integration in die atlantischen bzw. Europäische Integration gingen Hand in Hand.

Äußerer Druck und Angebot, auch die Wahrnehmung einer Gefahr aus dem Osten sowie politische Weitsicht, haben neue, dauerhaftere Strukturen geschaffen. Allerdings fehlte nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die Weitsicht und der Wille, um jetzt neue Strukturen unter Einbindung Russlands zu schaffen. Diese Weitsicht bzw. ein entsprechendes Engagement fehlte auch nach dem Zusammenbruch Jugoslawiens. Vielleicht auch deshalb, weil von keinem der Nachfolgeländer eine mit Deutschland bzw. der Sowjetunion vergleichbare Gefahr ausging. Zwar wurde beim EU Gipfel von Thessaloniki allen Balkanländern die EU Mitgliedschaft in Aussicht gestellt. Aber viel zu wenig wurde an einen großen Entwurf gedacht, wie man die Integration so vorantreiben könnte, dass auch die innere Integration von Bosnien - Herzegowina - sowie auch die Auflösung der Spannungen zwischen Serbien und Kosovo - eine starke Unterstützung erfahren würden.

Mehr Chancen für die Jugend
Nun gilt es vor allem der Jugend eine europäische Zukunft anzubieten. Dazu müssen gerade auch im Bildungssystem neue Weichen gestellt werden. Dazu zählt auch ein Geschichtsunterricht, der sich nicht am engstirnigen Nationalismus orientiert, sondern an einer aufgeklärten Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Strömungen und Akteuren der Geschichte, auch der jüngsten. Die EU förderte eine Zeit lang ein Projekt solche Geschichtsbücher zu verfassen, bei der Umsetzung in den Schulen verlor die EU Kommission jedoch das Interesse. Aber ohne der Jugend eine andere Erzählung als eine rein nationalistische anzubieten wird der Versöhnungsprozess noch schwieriger werden, als er ohnehin auch mit einem solchen Angebot wäre.

Die einzige Hoffnung für den Balkan generell und für Bosnien - Herzegowina im Besonderen, ist die Jugend, die einen Neustart beginnen könnte. Allerdings derzeit verlässt sie in großem Ausmaß den Balkan. Der Mangel an Jobs, an annehmbaren Lebensverhältnissen und auch die autoritären und bürokratischen Strukturen bieten kein Animo zu bleiben. Dabei könnte eine zirkuläre Migration es ermöglichen, Erfahrung im - vor allem europäischen Ausland - zu sammeln, um diese nach der Rückkehr im eigenen Land oder jedenfalls in der Region anzuwenden. Sowohl die EU als auch die betroffenen Länder müßten intensiv daran arbeiten, ein solches Konzept in die Tat umzusetzen.

Derzeit gibt es eher eine ungeordnete Emigration und eine spezifische Abwerbung mancher EU Staaten für dringend benötigte Fachkräfte wie Pflegepersonal. Entscheidend ist aber vor allem, dass die Staaten der Region selbst, und vor allem Bosnien- Herzegowina den Menschen, die zurückkehren - und natürlich auch jenen die bleiben - eine Chance geben, ihr Wissen und ihre Erfahrungen einzubringen. Ethnische, religiöse und andere Argumente und Kriterien dürfen dabei keine Rolle spielen. Es geht um die Zukunft eines Landes und einer Region, die soviel gelitten hat und deren Menschen es verdienen einen Neustart zu erleben. Da sollten die eigensüchtigen, politischen Machenschaften und Ranküne hinten anstellen.

P-S. Auf Anregung und mit Unterstützung eines Teilnehmers unserer Balkan Gruppe, Adnan Cerimagic, haben sich mehrere junge Bewohner aus Bosnien- Herzegowina bereit erklärt, ihre Position und Einschätzung zur Lage in Bosnien- Herzegowina in Videos festzuhalten. Das sind beeindruckende Zeugnisse aus einem faszinierenden Land, die beweisen, welche Kapazitäten darauf warten, eine Chance zu bekommen das Land zu gestalten und auch in die Europäische Union zu führen. Und sie sprechen all jene Themen an, die die Politik aufgreifen muss, um dem Land und seinen BürgerInnen eine prosperierende Zukunft zu geben. Und diese Themen betreffen alle Menschen, unabhängig von der ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit.

Foto: Store Norske Leksikon


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Dr. Hannes Swoboda, President of the International Institute for Peace (IP), started his career in urban politics in Vienna and was elected member of the European Parliament in 1996. He was Vice President of the Social Democrat Group until 2012 und then President until 2014. He was particularly engaged in foreign, enlargement, and neighborhood policies. Swoboda is also President of the Vienna Institute for International Economics, the Centre of Architecture, the University for Applied Science - Campus Vienna, and the Sir Peter Ustinov Institute.